Untot - Lauf, solange du noch kannst (German Edition)
gedacht hätte. Er ist kreisrund mit einer Gewölbedecke und riesigen, erhöhten Fenstern. Alles sieht weiß und glänzend und nagelneu aus, von den Schreibtischen und Buchregalen an der Wand unter den Fenstern bis hin zu dem langen Untersuchungstisch in der Raummitte. Ich glaube, wir haben die Frankenstein-Klinik gefunden.
»Alles okay mit euch?« Pete steht über einen Schreibtisch gebeugt und ist hektisch mit irgendwas beschäftigt. »Habt ihr hinter euch die Tür zugemacht?«
»Nein, wir haben sie weit offen stehen lassen, du Blödi«, schimpft Smitty. »Aber danke, dass es dich interessiert.«
»Können sie reinkommen? Was machen wir jetzt?«, ruft Alice von oben. Sie kauert auf einem breiten Fenstersims, das fast um den gesamten Raum verläuft, und hält ein Handy hoch gegen die Scheibe, auf der Suche nach einem Signal. Der Himmel allein weiß, in welcher Körperöffnung sie das Ding in den letzten Stunden versteckt hatte …
Ich reiße eine Schranktür auf, dann eine Schublade und werfe den Inhalt auf den Boden.
»Wo würden sie das Gegenmittel aufbewahren?« Ich gehe ein paar Regalfächer durch. Und dann sehe ich ihn: einen Kühlschrank. Genau da würde ich meine Zaubertränke verstecken. Ich ziehe die Tür auf und finde Fächer voller Reagenzgläser und Spritzen.
»Wofür?«, fragt Alice.
»Zu spät«, sagt Smitty und seine Worte hängen in der Luft wie ein übler Gestank.
Er zeigt zu einem Aktenschrank neben dem Durchgang. Darin stehen sechs kleine Bildschirme. Fast genau wie im Büro vom Cheery Chomper. Haargenau wie im Büro vom Cheery Chomper. Ich mache den Kühlschrank zu und gehe da hinüber. Die Bildschirme zeigen den Hof aus zwei Perspektiven, die Hinter- und die Eingangstür, das Tor. Und die Küche.
Lily steht da, mit dem Gesicht zur Kamera, und schwankt leicht, als würde sie Musik hören. Zuerst denke ich, dass sie die Augen zuhat, aber dann wird mir klar, dass sich ihre Augäpfel nach hinten gedreht haben und ich nur das Weiß sehen kann. Vom Kinn hängt ihr ein einzelner dunkler Speichelfaden herunter und er schaukelt mit ihrem Schwanken hin und her. Auf einmal schießen ihre Unterarme nach vorn, mit hochgebogenen Handgelenken und Fingern wie Klauen, fast so, als ob sie Klavier spielt und die Musik in ihrem Kopf ein Crescendo erreicht.
»Was gibt’s da zu sehen?«, ruft Alice von oben.
Cam ist weg. Alle sind weg. Nur Lily ist noch da – oder das, was einmal Lily gewesen ist.
»Was passiert gerade?«, ruft Pete vom Schreibtisch herüber.
Meine Augen sind zu trocken für Tränen und mir trommelt das Herz in der Brust. Und dann blitzt da eine Bewegung auf hinter Lily und es ist Michael, der sich an sie heranschleicht, mit Smittys Zwergenaxt, die er hoch über dem Kopf hält …
»Schalt ab!«, kreische ich und Smittys Hand schießt nach vorn und drückt den Ein/Aus-Knopf des Bildschirms. Alles wird dunkel.
Smitty schlägt gegen den Aktenschrank, dann stürzt er sich auf einen Ledersessel, wirft ihn um und tritt auf ihn ein, dass er über den polierten Fußboden rutscht.
»Was ist denn los, verdammt?« Alice erreicht kritisches Niveau.
»Cam hat sich verwandelt und Lily gebissen«, sagt Smitty leise und seine Brust hebt und senkt sich. »Und sie hat sich jetzt auch verwandelt.«
»O mein Gott«, jammert Alice los. »Cam war die ganze Zeit einer von denen?« Sie wirft das Handy hinunter aufs Fenstersims, legt den Kopf zurück und heult auf, schickt eine Art Urschrei hinaus ins sterbende Licht, als ob auch der letzte Funken Hoffnung ihren Körper verlässt. Heftige Szene. Das hätte sie schon längst mal aus sich herauslassen sollen – mit Einsetzen der Pubertät ungefähr. Dann wäre sie vielleicht ein viel angenehmerer Mensch geworden.
Mir fällt auf, dass es mein Handy ist, das sie da eben heruntergeschmissen hat. Auch egal. Es hat mir sowieso nicht viel bedeutet.
»Ich wusste es«, sagt Pete. »Cam hatte schon die ganze Zeit irgendwas Komisches an sich.«
»Ach echt, Albino?«, giftet Smitty bitter. »Wie zum Kotzen scharfsinnig du doch bist.«
»Was denn?«, kontert Pete. »Ist ja nicht so, als ob es mir nicht leidtut oder so. Es ist schrecklich.«
»Wenigstens ist es schnell gegangen.« Ich lege eine Hand auf Smittys Schulter. »Mit Lily, meine ich.« In Wahrheit habe ich keine Ahnung, ob das stimmt, und Smitty weiß das. Soweit wir sagen können, leiden Cam und Lily total, sie sind grotesk verunstaltet und voller Angst und halb tot und Michael erschlägt sie
Weitere Kostenlose Bücher