Untot mit Biss
»Und was hast du davon, Mircea? Nur Sicherheit? Oder hat sich die Konsulin bereit erklärt, dass ich dir gehöre, wenn du dies erfolgreich hinter dich bringst? Willst auch du mich benutzen?«
Mircea seufzte tief. »Niemand kontrolliert die Pythia, Cassie. Wenn die Macht zu dir kommt, kann ich dich nicht behalten. Das war mir von Anfang an klar.«
»Warum bin ich dann all die Jahre abgeschirmt worden? Warum soll es ausgerechnet jetzt geschehen?« Mircea hatte recht: Ich wusste, wie die Vampirpolitik funktionierte. Er hatte viel Zeit und Mühe darauf verwandt, mich zu beschützen, und ich bezweifelte, ob es ihm nur darum gegangen war, eine Hellseherin für seinen Hof zu bekommen. Schließlich wusste er, dass er die Kontrolle über ihre Fähigkeiten verlor, wenn sie zur Pythia wurde.
Mircea schien nicht sonderlich glücklich zu sein, aber er antwortete. Die Maske mit dem Lächeln existierte nicht mehr, und darunter kam Schmerz zum Vorschein. »Du weißt, was es bedeutet, die Familie zu verlieren,
Dulceatà.
Also verstehst du vielleicht, was es für mich bedeutet, dass mir von meinen Verwandten nur Radu geblieben ist, und er … Ich habe dir gesagt, was mit ihm geschah.«
»Ja.«
»Es gibt etwas, das ich dir nicht gesagt habe, denn ich spreche nur selten davon, und du warst nur ein Kind: Er leidet noch immer. Jeden Abend, wenn er erwacht, ist es so, als müsste er alles neu erleiden. Sie haben ihn gebrochen,
Dulceatà,
körperlich, geistig und seelisch. Selbst jetzt, Jahrhunderte nach dem Tod seiner Peiniger, schreit er voller Qual, denn er fühlt noch immer ihre Peitschen und Brandeisen. Schrecklicher Schmerz begleitet ihn jede Nacht.«
Mirceas Augen waren plötzlich sehr alt und schrecklich traurig; ich hatte gehört, dass die Pein nicht nur Radu betraf. »Ich habe oft daran gedacht, ihn zu töten, um ihm all das Leid zu ersparen, aber ich bringe es nicht über mich. Er ist alles, was ich habe. Doch inzwischen hoffe ich nicht mehr, dass er irgendwann aus seinem Albtraum erwacht.«
»Es tut mir leid, Mircea.« Ich widerstand der Versuchung, zu ihm zu gehen, über das zerzauste Haar zu streichen und ihn zu trösten. Dafür war es zu früh.
Jahre der Erfahrung hatten mich gelehrt, die ganze Geschichte herauszufinden, bevor ich Anteilnahme anbot. »Aber ich verstehe nicht ganz, was das mit mir zu tun hat.«
»Du wirst nach Carcassonne reisen.«
Ich brauchte einen Moment, um die Verbindung herzustellen, und selbst dann ergab sie keinen Sinn. »Du hast Radu aus der Bastille befreit.«
»Im Jahre 1769, ja. Aber ein Jahrhundert vorher war er nicht da. Radu wurde viele Jahre in Carcassonne gefangen gehalten und gefoltert.« Er sprach den Namen wie ein Schimpfwort aus, was er für ihn vermutlich auch war. »Kennst du den anderen Titel der Pythia, Cassie?« Ich schüttelte stumm den Kopf. »Man nennt sie auch Hüterin der Zeit. Du bist meine beste Chance, und meine einzige. Aber wenn die Pythia stirbt und du deine geliehene Macht verlierst, weil du noch nicht geeignet warst, sie zu behalten … Dann verliere ich das einzige Fenster zur Zeit, das ich jemals gefunden habe.«
Die Dinge wurden klarer. »Die Konsulin versprach dir eine Möglichkeit, Radu zu helfen. Das ist dein Lohn dafür, dass du mich dazu bringst, das kleine Problem des Senats zu lösen.«
Mircea neigte den Kopf. »Sie gestattete mir, das dritte Mitglied unserer Gruppe zu sein. Ich begleite dich, wenn du deine Reise antrittst. Während du zusammen mit Tomas den Anschlag auf Louis-Cesar verhinderst, rette ich meinen Bruder.« Mirceas Augen blickten kummervoll und sehr ernst. In jenem Moment wusste ich: Er würde mich nicht zwingen, wohl aber beiseitetreten und zusehen, wie jemand anders mich zwang. Sosehr er es auch verabscheute, noch weniger gefiel es ihm, Radu einfach seinem Schicksal zu überlassen. Ich wollte ihn dafür hassen, sah mich aber außerstande dazu. Es war zum Teil Mitleid – es musste schrecklich sein, über Jahrhunderte hinweg zusehen zu müssen, wie der eigene Bruder, dem Wahnsinn anheimgefallen, sich Tag für Tag quälte. Aber es war auch noch mehr: Mircea hatte nicht gelogen, obwohl er allen Grund dafür gehabt hätte. Es stimmte; ich konnte fast alles verzeihen, bis auf Lügen. »Woher willst du wissen, dass wir überhaupt dorthin zurückkehren?« Wenn er ehrlich zu mir war, verdiente er es, dass ich diesen Gefallen erwiderte. »Früher empfand ich Furcht oder so etwas in der Nähe von Louis-Cesar, aber das ist jetzt nicht mehr
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