Untot mit Biss
gewesen, der Geist des jüngsten Mädchens einer Familie, die um die letzte Jahrhundertwende von Tony ermordet worden war. Sie hatte außerhalb von Philadelphia in einem alten, von Deutschen errichteten Bauernhaus gewohnt, umgeben von sechzig Morgen schönem Land. Dort gab es einige riesige Bäume, die vermutlich schon alt gewesen waren, als Benjamin Franklin in jener Gegend gewohnt hatte, und eine steinerne Brücke über einen kleinen Bach. Tony hatte den Ort nicht für hübsch gehalten, sondern vor allem für praktisch. Ihm gefielen die Abgeschiedenheit und der Umstand, dass man die Stadt in nur einer Stunde erreichen konnte, und die Weigerung der Familie, das Anwesen zu verkaufen, kam bei ihm nicht gut an. Natürlich hätte er einfach ein anderes Haus in der Gegend kaufen können, aber diese Möglichkeit kam ihm vermutlich nicht einmal in den Sinn. Dass wir beide wegen Tony unsere Familien verloren, schuf eine Verbindung zwischen Laura und mir. Was auch immer der Grund sein mochte: Laura war nicht in ihrem Grab unter der alten Scheune dort draußen geblieben, sondern hatte sich auf dem Anwesen herumgetrieben. Zum Glück für mich, denn das einzige andere Mädchen bei Tony war Christina, eine hundertachtzig Jahre alte Vampirin, die ganz andere Vorstellungen von Vergnügen hatte als ich oder irgendeine andere geistig normale Person. Laura ging vermutlich auf ein Jahrhundert zu, aber sie sah immer aus wie sechs und verhielt sich auch so. Das machte sie zu einer klügeren älteren Schwester, als ich zu Tony kam. Sie lehrte mich die Freuden von Kuchen aus Sand, und wir trieben so manchen Schabernack. Jahre später zeigte sie mir den versteckten Safe ihres Vaters – darin mehr als zehntausend Dollar, die Tony nicht bekommen hatte – und hielt für mich Ausschau, als ich das erste Mal weglief. Sie machte etwas möglich, das mir bis dahin fast aussichtslos erschienen war, aber ich hatte nie Gelegenheit, ihr dafür zu danken. Bei meiner Rückkehr stellte ich fest, dass sie fort war. Ich nahm an, sie war weitergezogen, nachdem sie ihre Aufgabe als erfüllt gesehen hatte.
Die zehntausend Dollar halfen mir zusammen mit der Paranoia, die ich bei Tony gelernt hatte, auf der Straße zu überleben, aber es war trotzdem eine Zeit, an die ich nicht gern zurückdachte. Nicht etwa Mangel an physischem Komfort und gelegentliche Gefahr veranlassten mich zur Rückkehr. Jene Entscheidung traf ich auf der Grundlage der Erkenntnis, dass ich mich von außerhalb der Organisation nicht rächen konnte. Wenn ich Tony für das büßen lassen wollte, was er mir angetan hatte, musste ich zurückkehren.
Nichts war mir jemals so schwergefallen, was nicht nur an meinem Hass auf Tony lag – ich wusste nicht, ob seine Habgier größer sein würde als sein Zorn. Ja, er verdiente viel Geld mit mir, und außerdem war ich eine nützliche Waffe, mit der er seinen Rivalen drohen konnte. Sie wussten nie, was ich ihm über sie erzählen würde, was sie zwar nicht ehrlich machte, aber den unverschämteren Betrugsversuchen vorbeugte. Doch das beruhigte mich damals nicht sonderlich. Tony war nicht immer berechenbar. Er war schlau, und für gewöhnlich traf er seine Entscheidungen aus guten Gründen, in finanzieller Hinsicht. Aber manchmal ging das Temperament mit ihm durch. Einmal stritt er sich mit einem anderen Meister über eine eher banale territoriale Angelegenheit, ein Problem, das innerhalb weniger Stunden auf dem Verhandlungsweg hätte gelöst werden können. Stattdessen zogen wir in den Krieg – immer eine gefährliche Angelegenheit, denn wenn der Senat dahinterkommt, ist man tot, ob man gewinnt oder nicht – und verloren mehr als dreißig Vampire. Einige von ihnen gehörten zu den ersten, die Tony geschaffen hatte. Ich habe ihn bei ihren Leichen weinen sehen, als das Aufräumteam sie zu uns brachte, aber ich wusste auch, dass es beim nächsten Mal keinen Unterschied machen würde. Das war nie der Fall. Nun, ich hatte also nicht gewusst, was mich erwartete, offene Arme oder ein Ausflug in den Keller. Es waren die Arme gewesen, aber ich hatte immer das Gefühl, dass es nicht nur an meiner Nützlichkeit für ihn lag, sondern auch und vor allem daran, dass er einen guten Tag gehabt hatte.
Es dauerte drei lange Jahre, genug Beweise zu sammeln, um Tonys Geschäfte mithilfe des menschlichen Justizsystems zu zerstören. An den Senat konnte ich mich nicht wenden, denn Tony hatte nicht gegen die Gesetze der Vampire verstoßen. Es war durchaus in Ordnung
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