Untreu
Leitner überlegte. Sie strengte sich richtig an. Dann sagte sie: »Ich glaube nicht. Wir haben ein einziges Mal darüber gesprochen, weil sie eben so verzweifelt war, und da hat sie mir nicht einmal den Namen gesagt. Vielleicht hätte sie es getan, wenn ich an dieser Veranstaltung teilgenommen hätte. Aber es war nicht so.«
Paula zog ihren Gürtel aus den Schlaufen ihrer weiten Hose. Sie hatten ihr den Gürtel nicht abgenommen, dabei war das, wie sie aus dem Fernsehen wusste, doch eigentlich Vorschrift. In ihrem Kopf rauschte es. Sie tat etwas und wusste doch gleichzeitig, dass sie es nicht tun wollte. Sie wollte leben, nicht sterben. Aber gleichzeitig sehnte sie sich so sehr nach Ruhe. Keine Befehle mehr in ihrem Kopf. Einfach nur schlafen. Ewig schlafen.
Jeder Preis war ihr dafür recht.
»Mona?«
»Wer ist da?«
»Hans. Fischer. Wo bist du?«
»Im Auto, wieso?«
»Paula-Leila hat versucht, sich umzubringen. Heute Nacht. Sie haben gerade angerufen.«
»Die Svatek? Wo? Im Knast?«
»Ja. Sie liegt jetzt auf der Krankenstation. Ansprechbar, sagt der Arzt.«
»Wieso sagen die uns jetzt erst Bescheid?«
»Keine Ahnung. Willst du selber hinfahren?«
»Ja. Konferenz verschiebt sich auf... vier. Sagst du's den anderen?«
»Okay. Soll ich mitkommen?«
»Nein. Ich mach das schon. Ich ruf dich an, sobald ich mit der Svatek fertig bin.«
»Was soll das? Ich kann wirklich gerne mitkommen.«
Mona holte tief Luft. »Ich will sie allein sehen, verstehst du?«
Fischer legte auf. Bestimmt stocksauer.
Kapitel 7
»Die haben vergessen, ihr den Gürtel abzunehmen, diese Idioten«, sagte der Gefängnisarzt. Er war um die sechzig, leicht übergewichtig und trug einen weißen Kittel und weiße Gesundheitssandalen. Mona sah ihn fast nur von hinten, weil er die ganze Zeit im Laufschritt vor ihr herlief und hin und wieder einen Satz über seine Schulter in ihre Richtung schleuderte. Er sprach sehr schnell. Mona antwortete nicht, weil das offensichtlich nicht von ihr erwartet wurde.
»Idioten sind das. Ohne Menschlichkeit, ohne Verständnis. Nehmen der Frau den Gürtel nicht ab. Schwer suizidgefährdet, hätte man auf den ersten Blick sehen müssen. Und sie lassen ihr den Gürtel.« Er bog um eine Ecke, und vor ihnen tauchte eine Glasfront mit der Aufschrift »Krankenstation« auf.
»Ist sie bei Bewusstsein?«, fragte Mona, als er die Glastür aufschloss und sie endlich neben ihm stehen bleiben konnte. Sie hörte ihn leise keuchen. Ein schwacher Geruch nach Schweiß und Desinfektionsmitteln ging von ihm aus.
»Mal so, mal so. Ich hab ihr was zur Beruhigung gegeben.«
»Warum hat sie...«
»Keine Ahnung. Sie sagt kein Wort.«
»Haben Sie sie gefragt?«
Er sah Mona gekränkt an, die Klinke der Glastür in der Hand. »Was soll das denn? Für wen halten Sie mich eigentlich?«
»Und sie hat nichts gesagt?«
»Kein Wort. Sie hat vor irgendwas Angst, das ist schon mal sicher.« Er hielt ihr die Tür auf, sichtlich ungeduldig. »Da hinten. Raum sechs. Wollen Sie, dass ich dabei bin?«
»Nein. Muss nicht sein.«
»Gut.« Er blieb abrupt stehen und gab ihr die Hand. »Ich muss los. Gleich kommt ein Beamter. Er wartet vor der Tür auf Sie.«
»Gut. Wie geht es ihr jetzt?«
»Außer Lebensgefahr. Sie hat versucht, sich an ihrem Gürtel aufzuhängen. Am Fenstergriff. Das klappt selten, wissen Sie, und dann war sie ja auch nicht allein in der Zelle, und die andere ist aufgewacht, bevor was Schlimmeres passieren konnte. Aber trotzdem hätten sie ihr das Ding abnehmen müssen. Das ist Vorschrift.«
»Ich weiß.«
Paula-Leila lag allein im Krankenzimmer, in dem noch zwei leere Betten standen. Sie hatte sich mit dem Rücken zur Tür gedreht, und man sah nur ihren roten Haarschopf. Ihr Bett stand direkt am vergitterten Fenster, durch das eine blasse, nebelverschleierte Herbstsonne schien. Wieder war es nachts sehr kalt geworden, nachdem der Regen aufgehört hatte. Aber der Wetterbericht hatte für heute einen angenehm warmen Tag vorhergesagt.
Mona holte sich einen Stuhl und setzte sich neben Paula Svateks Bett. Sie berührte vorsichtig die unter der Decke verborgene Schulter. Unter ihrer Hand spürte sie, wie die andere zusammenzuckte: Sie hatte nicht geschlafen. Sie wollte nur mit niemandem reden.
»Paula«, sagte Mona so behutsam, wie sie konnte. »Bitte drehen Sie sich um.«
Paula bewegte sich nicht. Ihre Schulter fühlte sich steif an, wie tot, und einen Moment lang befürchtete Mona genau das. Dass Paula doch noch
Weitere Kostenlose Bücher