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Untreu

Titel: Untreu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa v Bernuth
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vor ihrem Verschwinden, einem glutheißen Augusttag mitten in den Ferien, setzt sie sich in die S-Bahn und fährt in die Innenstadt. Kai begleitet sie diesmal nicht, weil Satan das nicht will. Es ist ihre Aufgabe. Satan prüft damit erneut ihre Ergebenheit: Sie fährt zu dem Mann, mit dem ihre Mutter sie betrügt. Sie kennt seinen Namen nicht, nur seine Adresse, aber sie vertraut Satan: Er wird sie im richtigen Moment zu ihm bringen - irgendwie. In ihrer Umhängetasche hat sie ein langes Messer versteckt. Sie hat es eingesteckt, ohne zu wissen, wozu sie es benützen wird. Es ist, als habe ihr jemand die Hand geführt.
    Es ist neun Uhr morgens, als sie auf ihr Rad steigt und losfährt. Ihre Mutter ist zu Hause. Sie putzt Bad und Küche, bügelt und kocht wie besessen. Sie ist dünn geworden und wirkt nervös, unglücklich und seltsam. Offenbar trifft sie den jungen Fremden zurzeit nicht. Maria weiß natürlich, warum: Weil sie da ist und kommt und geht, wann es ihr gefällt. Weil ihre Mutter sich nicht auf sechs Stunden Unterricht verlassen kann, die ihr einen freien Vormittag garantieren.
    Wohin fährst du?,
hat sie ihre Tochter mit matter Stimme gefragt, aber Maria hat sie nicht einmal einer Antwort gewürdigt. Zum Plan gehört, ihre Mutter zu verunsichern. Sie soll sich möglichst nicht mehr aus dem Haus trauen. Sie soll sich fürchten vor den durchdringenden Blicken ihrer Tochter, ihren unausgesprochenen Fragen, ihrem stillen Vorwurf. Maria spürt, wie viel Macht sie über ihre Mutter hat, indem sie ihr Wissen verschweigt. Es funktioniert.
    Der Morgen ist noch kühl, die Luft aber schon weich wie Samt. Eichen, Fichten und Kastanienbäume schirmen die Sonne ab, die noch tief steht. Maria fährt mit dem Rad durch die ruhigen Straßen ihrer Siedlung zum Bahnhof. Niemand ist auf der Straße, kein Auto zu hören, nur das Zwitschern der Amseln und Spatzen in den großzügigen Gärten. Einen Moment lang fühlt Maria den Frieden, der von dieser Szenerie ausgeht. Einen Moment lang möchte sie am liebsten immer so weiterfahren, ohne Plan. Vielleicht zu Jenna, die diesen Sommer umzieht und im Herbst in eine andere Schule kommen wird. Sie sehnt sich plötzlich nach Jenna. Ihre Freundschaft hat sich nicht direkt erledigt, aber sie haben auch nicht mehr viel miteinander zu tun. Schon vor Kai war es nicht mehr wie früher gewesen, und jetzt grüßen sie einander noch, aber sie unternehmen nichts mehr zusammen.
    Vielleicht würde Jenna sich freuen, Maria zu sehen, bevor sie endgültig wegzieht. Sie ist aus einer anderen Welt, einer, in der Satan keine Rolle spielt. Immer wenn Maria mit Kai und Leila zusammen ist, fühlt sie sich als Auserwählte. Aber heute beneidet sie die anderen in ihrer banalen, sorglosen Existenz. Sie ahnen nichts von der Macht Satans. Sie bekommen sie früher oder später zu spüren und nennen sie dann Pech oder Schicksalsschlag. Manchmal - jetzt - sehnt sich Maria zurück in diesen Zustand des Nichtwissens. Jetzt wäre sie gern eine wie alle, nicht besonders hübsch, mittelmäßig intelligent, zufrieden. Sie musste Satan kennen lernen, um zu erfahren, wie schön es sein kann, durchschnittlich zu sein.
    Aber so war sie ja nie. Es ist ihr Karma.
    Sie überquert eine befahrene Hauptstraße und stellt ihr Rad am großen Fahrradständer am S-Bahnhof ab. Am Kiosk daneben kauft sie sich ein Twix: Sie hat nicht einmal gefrühstückt. Sie ist blass, weil sie die Sonne wochenlang gemieden hat, und ihre Augen brennen: Sie schläft kaum noch (Kai geht es ähnlich, das ist der Tribut, den Satans Gnade fordert). Der Kioskbesitzer schaut ihr nach und registriert ein dünnes, verwirrt wirkendes Mädchen mit wild aufstehenden kurzen Haaren und einem merkwürdig tiefen, angstvollen Blick. Der Blick ist viel älter, als sie an Jahren sein kann.
    Maria steigt in die S-Bahn. Ihr Geruchssinn hat sich in den letzten Wochen unter Satans Einfluss geschärft, und das ist nicht immer angenehm. Sie riecht ungewaschene Kleider, kalten Rauch, alten Schweiß und die undefinierbaren Ausdünstungen der kunstledernen Sitze. Sie setzt sich auf einen Platz, den die immer höher steigende Sonne noch nicht aufgeheizt hat, und versucht, ihre Umgebung, das Schwatzen und Lachen um sie herum zu ignorieren. Sie ist gleichzeitig todmüde und überwach. Sie weiß, dass sie jetzt nicht versagen darf. Sie muss den Fremden finden, und sie muss ... Aber das wird sich erweisen. Sie ist sicher, dass Satan sich im richtigen Moment einschalten wird, um sie

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