Untreu
hast dir gedacht, du brauchst nur deinen ganzen Charme einzusetzen, um den Geist wieder in die Flasche zurückzubefördern (ich kenne dich gut, stimmt's?). Aber du hast nicht mit meiner Kraft, meinem Scharfsinn und meinem Zorn gerechnet. Ich werde um uns kämpfen. Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich mich nicht unterbuttern lassen. Ich werde nicht länger die Brave, Freundliche, Verständnisvolle spielen, damit wieder andere ernten, was ich gesät habe.
Diesmal nicht.
Ich weiß noch nicht, was ich tun werde. Zunächst werde ich dir eine letzte Chance geben. Du bekommst das Geld. Gibt es nicht in absehbarer Zeit eine
freiwillige
Gegenleistung - du weißt schon welche, nicht wahr? -, dann wirst du bereuen, mich jemals getroffen zu haben.
Das schwöre ich dir und mir.
Satan begleitet Maria nun überall hin. Seine Intelligenz und sein Wissen sind umfassend. Satan blendet nichts aus, auch nicht die dunklen Seiten der Welt - gerade ihnen gilt sein besonderes Augenmerk. Er legt den Finger auf die Wunden einer verlogenen Gesellschaft. Er öffnet Maria die Augen, und plötzlich nimmt sie die hässlichen Fratzen hinter gefälligen Masken in aller Deutlichkeit wahr. Kai bestärkt sie darin, genau hinzusehen, sich nichts vormachen zu lassen. Gemeinsam kommunizieren sie mit Satan in Leilas Haus, dringen immer tiefer in seine Mysterien ein, holen sich Rat für ihre nächsten Aufgaben.
Denn Satan lässt es nicht zu, dass sich der Kontakt zu ihm auf ein paar schaurig-schöne Gruselsessions beschränkt. Er fordert Beweise für echtes menschliches Interesse. Er will Opfer. Als Erstes fordert er Marias Haar. Sie liebt ihr dickes Haar; Satan will, dass sie es kurz schneidet. Er bezeichnet das als symbolischen Akt, mit dem sie ihre Erdenschwere ablegen kann. Maria braucht einen Tag, bis sie sich dazu durchringt, aber dann tut sie es. Sie stellt sich vor den Badezimmerspiegel und schneidet eine lange, dicke Strähne nach der anderen ab und lässt sie achtlos fallen. Zum Schluss ringeln sie sich wie Schlangen auf dem Boden, auf dem Badewannenrand, im Waschbecken. Maria packt sie und stopft sie in den Abfalleimer. Dann erst traut sie sich, in den Spiegel zu schauen. Sie fühlt sich nicht entlastet, sondern eher schwach ohne den Schutz ihrer Mähne, aber Satan wird wissen, was gut für sie ist, auch wenn ihre Eltern entsetzte Gesichter machen und sie zum Friseur schicken wollen.
Maria geht nicht zum Friseur. Sie hat alle Trümpfe in der Hand, ihre Eltern können nichts mehr unternehmen, um sie aufzuhalten. Satan hat dafür gesorgt, dass sie ihre Hausaufgaben mittlerweile in Rekordgeschwindigkeit erledigt. Er klärt ihren Geist, befreit ihn von Hoffnungen und Begierden und befähigt sie zu Höchstleistungen: Sie wird am Ende dieses Schuljahrs das beste Zeugnis ihrer gesamten Schullaufbahn nach Hause bringen.
Maria sieht alles, hört alles. Das unterdrückte Weinen ihrer Mutter nach gewissen Telefonaten zum Beispiel. Sie erkennt: Satan hatte Recht, ihre Mutter lebt eine Lüge. Auf Anweisung Satans schwänzt sie einen Vormittag die Schule und versteckt sich zusammen mit Kai in der Nähe ihres Hauses in Kais Auto. Punkt halb elf sieht sie ihre Mutter aus dem Haus kommen und in ihren Kleinwagen steigen. Kai und Maria verfolgen sie unbemerkt bis zu einem mehrstöckigen Betonklotz in einer der schlechteren Gegenden der Stadt. Ihre Mutter verschwindet darin, und sie warten eine halbe Stunde auf der anderen Straßenseite, bis sie sie wieder auftauchen sehen - neben einem dunkelhaarigen, gut aussehenden Jungen, der höchstens wie Mitte zwanzig aussieht.
Satan wusste all das. Woher? Eine Frage, die sich Maria nicht mehr stellt. Satan hat schon mehrfach bewiesen, dass er Mauern, Entfernungen und Gedanken mühelos überwinden und durchdringen kann. Ihre Mutter geht neben dem Jungen her, sie unterhalten sich lebhaft gestikulierend - es sieht beinahe nach einem Streit aus - und verschwinden in einem Fußgängerdurchgang, der mit dem Auto nicht passierbar ist. Ihre Mutter wirkt bedrückt. Maria wird Satan fragen, warum.
Erwachsene haben es verlernt, nach der Wahrheit zu leben
, sagt Kai neben ihr. Maria sieht sie an. Sie ist wunderschön, wie immer. Ihre blasse Haut, die sie absichtlich nie der Sonne aussetzt, ist makellos, ihre blauen Augen scheinen mühelos in Maria hineinzusehen, in die Tiefen ihrer eigenen Verletzlichkeit. Kai ist ein Wesen von einem anderen Stern, so wie sie. Sie beide sind erwählt, Außerordentliches zu vollbringen, das
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