Untreu
nach hinten zu der Saftbar. Ich stieg von der Bühne, zündete mir eine Zigarette an (Alkohol durfte hier nicht getrunken werden, aber rauchen war erlaubt). Ich wollte einen Auftritt haben. Du solltest nicht denken, dass hier eine vom Leben gebeutelte Frau zu dir kam. Ich blieb stehen, mitten unter den lachenden, schwatzenden Frauen, von denen eine sofort versuchte, mich ins Gespräch zu ziehen (wenigstens hier war ich nicht unsichtbar). Ich reagierte unhöflich, ich konnte in diesem Moment nicht sprechen, mit niemandem. Alle meine Sinne konzentrierten sich auf unser Wiedersehen. Ich zog einen Handspiegel und einen Lippenstift aus meiner Tasche. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich den Spiegel kaum ruhig halten konnte, aber schließlich sah ich wie durch einen Nebel mein Gesicht. Ich versuchte, mich eine Sekunde lang so objektiv wie möglich zu betrachten - ich wollte wissen, wie du mich wahrnehmen würdest.
Würdest du erschrecken? Würdest du mich - furchtbare Vorstellung - nicht wiedererkennen? Würde ich in die peinliche Situation kommen, dir erklären zu müssen, wer ich war - vor all den anderen, die mich anstarren würden?
Ich studierte den Spiegel wie ein Orakel und sah eine Frau mit blassen Lippen und angstvoll aufgerissenen Augen. Ich trug frischen Lippenstift auf - reichlich. Das Ergebnis war nicht voll befriedigend, aber ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich diese Chance nicht beim Schopf ergriffen hätte. (Heute denke ich manchmal: Vielleicht hätte ich warten sollen. Auf eine bessere Gelegenheit. Aber jetzt ist es zu spät, jetzt ist alles geschehen, hat das Schicksal seinen Lauf genommen, und ich bin Opfer und Täterin zugleich.)
Ich ging auf dich zu, durch die Menschenmenge. Ich sah dich. Du sprachst mit dieser blonden Frau, einer der Veranstalterinnen. Ich wartete, denn ich wollte dich nicht unterbrechen. Ich wollte nicht lästig sein (vielleicht hätte ich mich darum nicht scheren dürfen, vielleicht hätte sich dann alles anders entwickelt).
Ich wartete, aber du hörtest nicht auf, mit dieser Frau zu sprechen. Du hast sie angelächelt, so wie früher mich. Du tratest von einem Bein aufs andere, das konnte ich sehen, obwohl du hinter der Bar standst, denn ich kannte dich ja so gut. Ich wusste, wie du warst, wenn dir jemand gefiel. Ich wusste, wie du aussahst, wenn du dabei warst, dein gesamtes Arsenal an Charme und Witz abzufeuern. Du warst dann konzentriert wie ein Feldherr auf ein einziges Ziel.
Das Ziel war diese Frau. Sie war ebenfalls wesentlich älter als du, aber - möglicherweise - ein, zwei Jahre jünger als ich. Sie war blond, was ich nicht bin. Sie war klein und sehr zartgliedrig - auch das bin ich nicht. Sie hatte ein scheues, mädchenhaftes, reizendes Lächeln. Ich registrierte mit abgrundtiefer Bestürzung, wie dieses Lächeln auf dich wirkte. Und ihre geradezu altmodische Zurückhaltung: Sie machte dich wild, stimmt's? Wie gut ich dich kenne!
Sie wollte gehen, aber das hast du nicht zugelassen. Du hast sie sanft am Arm berührt, und ich verstand. Ich musste diese Unterhaltung unterbrechen, mir blieb keine Wahl.
Ich trat vor und sagte: Milan.
Du hörtest mich nicht. Du sahst die blonde Frau an, als gäbe es sonst niemanden auf der Welt.
Ich wiederholte mit etwas lauterer Stimme: Milan!
Ich würde nicht weggehen. Niemals. Ich musste diese Unterhaltung unterbrechen.
Schließlich sahst du irritiert in meine Richtung. Ich kam einen weiteren Schritt auf euch beide zu, sodass ich nun neben der blonden Frau stand und dir gegenüber. Zwischen uns gab es nur noch den Tisch mit den Getränken. Ich sah angebrochene Orangen- und Apfelsaftflaschen, Mineralwasser, ein paar saubere Gläser und viele schmutzige. Das weiße Tischtuch war bereits voller Saftflecken. Ich sah dich an, du trugst Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit der weißen Aufschrift UCLA. Deine Haare waren etwas kürzer als sonst, dein Gesicht leicht gebräunt. Weswegen warst du hier? Was hattest du diesmal verbrochen? Wieder ein Mädchen aus Eifersucht getötet?
Du warst so hübsch. Wärst du etwas größer gewesen, hättest du als Model Karriere machen können. Ich verschlang dich mit den Augen, ich konnte nicht anders.
Hallo, sagtest du. Du wirktest überhaupt nicht überrascht: Natürlich hattest du mich bereits gesehen. Du hattest mit dieser Szene gerechnet. Du hattest Zeit, dich darauf vorzubereiten.
Erkennst du mich, fragte ich. Ich meine, damals. Weißt du noch...
Ich brach ab. Meine eigene Stimme hörte
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