Untreu
dichtem grauem, zum Zopf nach hinten gebundenem Haar. Seine langen Beine ruhten über Kreuz auf dem Schreibtisch, auf seinem Schoß befand sich ein geöffneter Aktenordner. Das Telefon klingelte, aber er ignorierte es.
»Hallo, Willi. Willst du nicht rangehen?« Langsam wurde sie wieder wacher.
»Nenn mich nicht Willi. Ich hasse das.«
»Na schön. Wilhelm.«
»Ein guter Name. Wilhelm Kaiser. Klingt nach Wertarbeit unter lauter Mehmets und Alis.«
»Ja, ja. Hör mal...«
Das Telefon verstummte ein paar Sekunden lang und fing dann erneut an zu klingeln. Wilhelm Kaiser hob den Hörer ab. »Nein«, sagte er nach ein paar Sekunden in die Muschel. »Genau: Nein. Wir reden später.« Er legte auf.
»Probleme?«, fragte Mona. Sie mochte ihn. Sie fand, er sah nicht schlecht aus, so, als hätte er alles gesehen und trotzdem seine gute Laune nicht verloren. Das Alter, Anfang vierzig, stimmte auch. Einmal, vor Jahren, waren sie abends zusammen aus gewesen, in einem sehr teuren italienischen Lokal. Wilhelm hatte sie eingeladen, mit Wein und allem. Aber irgendwie hatte sich trotzdem nichts daraus entwickelt.
»Der übliche Scheiß. Diese Jungs hier... Du weißt, was ich meine. Steh hier nicht rum wie angewachsen. Kaffee?«
»Schwarz mit Zucker.« Mona setzte sich.
Wilhelm beförderte seine Füße auf den Boden und begab sich zu einer voluminösen Espressomaschine im hinteren Teil des Büros. Seine ausgewaschenen Jeans schlackerten um seine mageren Hüften.
»Hast du keinen normalen Kaffee?«, rief Mona ihm nach.
»Kein Mensch außer dir trinkt freiwillig diese bittere Brühe, wenn er was Besseres haben kann.«
»Espresso ist mir aber zu stark.«
»Ich mach ihn ganz schwach. Ein Hauch. Speziell für dich.«
Mona holte eine Liste aus ihrer Aktentasche. Die Espressomaschine zischte und spuckte. »Vielleicht 'n Cappuccino?«, rief Wilhelm. »Ich hab Milch da zum Aufschäumen.«
»Schwarz, bitte.«
»Na schön.«
Wilhelm stellte Tasse und Zucker auf ihre Seite des Schreibtischs. Der Espresso glänzte wie flüssiger Teer. Mona nahm einen Schluck. Er schmeckte auch so. Sie stellte die Tasse vorsichtig zurück.
»Was kann ich für dich tun, Mona? Wo du schon nicht mehr mit mir essen gehst.«
Meinte er das ernst? Er hatte sie nie ein zweites Mal gefragt, obwohl der Abend damals eigentlich schön gewesen war.
»Wir könnten...«, fing sie an und erkannte gerade noch rechtzeitig, dass sie dabei war, jemandem beim Wort zu nehmen, der vielleicht nur Sprüche machte. Er wollte sie nicht wirklich. Oder er wusste nicht, wie man es anstellte, einer Frau zu sagen, dass man sie wirklich wollte.
So jedenfalls nicht.
»Ich wusste nicht, dass du hier Lesungen veranstaltest«, sagte sie stattdessen.
Wilhelm wirkte enttäuscht. »Wie, Lesungen?«, fragte er.
»So nennt man das doch. Schriftsteller lesen aus ihren Büchern vor. Hier.«
»Ach so, das.«
Wilhelm legte die Beine wieder auf den Tisch. »Zweimal im Monat gibt's hier Kultur. Wir haben sogar einen Extraraum dafür. Mit einer super Akustik.«
»Wusste ich ja gar nicht.«
»Du hast aber 'ne Einladung gekriegt zur Einweihung.«
Eine schwache Erinnerung stieg in Mona auf. Gut anderthalb Jahre war das bestimmt schon her. Sie hatte wie üblich keine Zeit gehabt, und dann war die Einladung im Papierwust auf ihrem Schreibtisch verloren gegangen. So musste es gewesen sein.
»Wäre ich gern dabei gewesen.«
»Du hast nicht mal geantwortet.«
»Tut mir Leid. Ich war wahrscheinlich wieder im Stress und hab vergessen...«
»Ist ja jetzt egal. Also, Lesungen. Wieso interessiert dich das?«
»Im Herbst vor einem Jahr. Hier ist das Datum. Da muss hier eine Lesung gewesen sein, die von euch und von der evangelischen Gemeinde vom Westend organisiert wurde. Eine Schriftstellerin namens Carola Stein, sagen die von der Gemeinde. Kann auch ein - wie sagt man - Pseudonym sein.«
»Ich schau nach. Warte einen Moment.«
»Ich muss vor allem wissen, wer dabei war. Von den Insassen, meine ich.«
Wilhelm kramte in einer Hängeregistratur.
»Hier«, sagte er schließlich. In der Hand hielt er einen dünnen Folder.
»Sind das die Lesungen?«
»Ja. Zeig mir noch mal das Datum...Okay. Carola Stein. Kriminalautorin. An dem Abend hat die hier gelesen. Kennst du sie?«
»Ich lese keine Krimis.«
»Du hast es mehr mit den Philosophen, was? Sloterdijk, Derrida?«
»Klar. Sehr witzig.«
»Carola Stein. Hat vier Romane geschrieben, einer bekam einen Preis. Sie hat aus ›Der Hass‹
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