Untreu
es getan hat - Tag für Tag, Nacht für Nacht. Ich fühle mich ihm entsetzlich nah, denn ich verstehe, was ich auf keinen Fall verstehen will. Ich kann mich gegen nichts mehr abgrenzen. Ich lese in einer Zeitschrift die Geschichte eines anonymen Päderasten, der weiß, dass er sein enormes Begehren nie, nie leben darf. Ich will empört sein, stattdessen spüre ich die Tragödie dieses Mannes. Ja, er tut mir Leid, denn auch ich begehre. Ich stehe innerlich in Flammen, aber niemand löscht den Brand, niemand reicht mir mehr den kühlen Trunk befriedigter Lust.
Ich werde verbrennen. Ich hoffe, niemand sonst.
Maria und Kai sind nun fast jeden Nachmittag bei Leila in dem Haus außerhalb der Stadt mit den knarrenden Dielen und dem dämmerigen Licht, das selbst dann herrscht, wenn die Sonne draußen brennt. Dieser Sommer ist ungewöhnlich heiß und trocken, aber Kai und sie merken davon wenig. Sie gehen nicht schwimmen, sie fahren auch nicht mehr in die Natur. Stattdessen rufen sie bei Leila die Geister, stundenlang, mit den unterschiedlichsten Techniken, meistens aber mit den Ouija-Brett. Sie lassen sich von ihnen beraten auf ihrem weiteren Weg in die Mysterien des Jenseits. Denn dahin wollen sie gelangen. Sie wollen die Welt in ihrer Ganzheit verstehen, nicht nur die sichtbare, fassbare Materie.
Mit der Zeit akzeptiert Leila Marias Anwesenheit. Vielleicht spürt sie, dass Kai sie andernfalls nicht mehr besuchen würde, aber das ist nur eine Vermutung Marias. Leila spricht nie über sich, es ist also schwierig, sich ein Bild von ihr zu machen. Auch über ihre Beziehung zu Leila spricht Kai nie. Aber es scheint so, als ob sie manchmal bei ihr übernachtet, denn einmal gab ihr Leila einen Pullover mit der dahingeworfenen Bemerkung zurück:
Hast du heute früh vergessen
.
Maria reagierte nicht darauf, gerade weil sie den Eindruck hatte, dass in diesem Satz eine Information verborgen war, die nicht an Kai, sondern an sie gerichtet war. Kai nahm den Pullover schweigend an sich und legte ihn achtlos auf einen Stuhl. Maria fühlte sich ihr wieder so nah, als seien selbst Kais Gedanken für sie transparent. Umso mehr irritiert es sie, wenn Kai sich dann doch so unberechenbar verhält, als gäbe es sie gar nicht.
Leila und Kai machen sie mit Büchern vertraut, die sie in die Welt der Geister einführen. Leila hält ihr Vorträge über weiße und schwarze Magie und über den König der Geister, Satan. Satan ist eine Macht, an die man sich nur langsam herantasten darf. Schafft man es aber durch Demut und Geschicklichkeit, seine Gunst zu gewinnen, wird Satan zum treuen Verbündeten. Dann erlaubt er einem, ein Stück seiner Macht zu nutzen. Es gibt in Satans Verständnis weder Recht noch Unrecht. Satan wertet nicht. Er ist radikal objektiv. Er setzt auf Skepsis statt auf Kinderglauben, er sagt:
Wenn du mich wählst, wählst du den harten Weg zur Erkenntnis
. Satan ist alles andere als ein gefallener Engel, das, erklärt Leila, seien nur die autoritären Interpretationen einer Kirche, die alle moralische Kompetenz für sich reklamiere. Satan verkörpere die dunkle Seite der Macht. Er existiere gleichberechtigt im Universum. Ohne Satan gäbe es nur die halbe Wahrheit.
Leila gebärdet sich bei diesen Vorträgen immer sehr ernst. Ihre Stimme, normalerweise tief und gelassen, wird laut, fast hysterisch, ihre Worte werden immer schneller, der Blick ihrer unnatürlich hellen Augen hypnotisch starr und durchdringend. In solchen Momenten hat Maria beinahe Angst vor ihr. Aber sie gewöhnt sich daran, die Augen nicht zu senken. Sie will, dass Kai stolz auf sie ist, und das gelingt ihr nur, wenn sie keine Furcht zeigt. Einmal sagt Kai zu ihr: »Du warst auf der Suche nach einem Meister. Jetzt bist du dabei, ihn zu finden.« Der Meister, glaubt Kai, ist Satan.
Das Wort geht ihr anfangs schwer über die Lippen. Kai und Leila müssen viel Überzeugungsarbeit leisten, um ihr klar zu machen, dass Satan kein Synonym für das Böse ist, sondern die Essenz der Wahrhaftigkeit, das Ende wohlfeiler Lügen und fauler Kompromisse. Elend existiert nicht, weil Gott uns prüfen will, sondern weil Menschen das von der Kirche so genannte Paradies gar nicht ertragen würden. Menschen, sagt Satan, sind nicht dafür gemacht, immer glücklich zu sein. Sie brauchen Hass und Tragödien, um sich lebendig zu fühlen. Tod und Leben sind eins. Es gibt keine Verbrechen, es gibt nur unterschiedliche Methoden, individuelle Interessen zu vertreten: Alles ist erlaubt.
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