Untreu
Satan ist Freiheit.
»Nicht alle Menschen sind im Stande, frei zu sein«, sagt Leila und heftet ihren farblosen Wasserblick auf Maria. Ihre hennaroten Haare waren wilder denn je. »Freiheit bedeutet die Abwesenheit von Sicherheiten. Die meisten ertragen das nicht. Auserwählt zu sein bedeutet, diesen Zustand nicht nur zu ertragen, sondern willkommen zu heißen.« Es hört sich an, als zitiere sie auswendig aus einem Buch, und vielleicht tut sie das ja auch. Aber das ist nicht relevant. Was zählt, ist das Wissen an sich.
Maria beugt sich gemeinsam mit Kai und Leila über das Brett, zum soundsovielten Mal. Es ist ein heißer Nachmittag im August. Leila hat die Rollläden heruntergelassen, sodass die gleißende Sonne nur schräge Streifen in das abgedunkelte Zimmer werfen kann. Alle drei legen ihre Finger auf die Plakette. Leila ruft wie immer ihren persönlichen Hilfsgeist namens Ishmael. Ishmael ist ihr Führer ins Reich der Dunkelheit. Heute soll er Maria zum ersten Mal zu Satan bringen. Es ist ein Experiment. Satan nimmt beileibe nicht jeden Anruf an. Den meisten - den Gutgläubigen, Ahnungslosen und Ängstlichen, den Feinden der Wahrheit, den Verfechtern friedvoller Illusionen - verweigert er jeden Kontakt.
Die Plakette bewegt sich ruckartig, dann immer schneller und fließender. Maria hat mittlerweile Routine darin, sie ist kaum noch aufgeregt über die Entdeckung, dass es etwas gibt, das durch ihre Finger hindurch mit ihr kommuniziert. Sie macht sich keine Gedanken mehr darüber, ob und warum so etwas möglich ist. Sie fühlt sich beinahe zu Hause in einer Welt, die nicht sichtbar oder fühlbar, sondern nur durch die Kraft der Gedanken erreichbar ist.
ICH BIN DA.
»Ishmael?«
ICH BIN DA.
Leila holt tief Luft. »Bring uns zu Satan.«
Die Plakette zögert, bleibt schließlich ganz stehen. Mit einem Mal scheint die Power aus ihr verschwunden zu sein. Der Zauber ist vorbei: Sie sehen ein banales Stück Plastik auf einem albern verzierten Spielbrett.
»Er ist weg«, sagt Leila enttäuscht.
»Warte noch«, sagt Kai mit drängender Stimme. Es scheint ihr wichtig zu sein, dass Maria heute weiter kommt als sonst. Sie will die Abfuhr nicht akzeptieren. »Ruf noch einmal Ishmael. Bitte, Leila.«
»Das hat bestimmt keinen Sinn. Er will nicht, er ist weg.«
»Bitte.«
Leila schließt folgsam erneut die Augen. Die Power kehrt zurück, langsam. Die Plakette bewegt sich wieder, aber diesmal scheint sie beinahe unter Strom zu stehen. Maria spürt, wie sich eine Gänsehaut auf ihren nackten Armen ausbreitet. Ihre Kopfhaut beginnt seltsam zu kribbeln, ihre verschwitzten Nackenhaare stellen sich auf. Plötzlich ist ihr eiskalt. Das Blut schwindet aus ihrem Gesicht, Schweiß tritt auf ihre Stirn.
ICH BIN DA.
»Wer bist du?«, flüstert Leila, als ob sie die Antwort schon wüsste.
NENN NIEMALS MEINEN NAMEN.
»Nein.«
DIE STRAFE HIERFÜR IST DER TOD.
Einen Moment lang denkt Maria, dass sie dann alle längst verblichen sein müssten, aber vielleicht meint Satan lediglich, dass man ihn nicht in dieser Situation - also nicht jetzt - mit Satan ansprechen solle. Einen Moment lang ist sie ratlos über diese merkwürdige, nicht gerade von Souveränität zeugende Anweisung, dann erstarrt sie vor Schreck. Die Plakette buchstabiert ihren Namen.
MARIA.
»Antworte ihm«, befiehlt Leila. Ihre Augen wirken riesengroß, und auch sie ist jetzt leichenblass, sieht beinahe krank aus unter ihren nun viel zu roten Haaren.
»Ja«, sagt Maria mit dünner Stimme. Und fügt, so wie sie es gelernt hat, hinzu: »Ich bin da.«
DU BIST NICHT FROH.
Maria senkt den Kopf. Sie ist nicht sicher, ob sie weitermachen will.
»Antworte ihm!«, zischt ihr Leila wieder zu. »Mach schon, lass IHN nicht warten.«
»Nein, bin ich nicht«, sagt Maria.
UM DICH IST BETRUG.
Maria verharrt ratlos.
UM DICH HERUM HERRSCHT DIE LÜGE. SIE VERNICHTET DICH UND DEINE ANVERWANDTEN.
»Wieso?«, flüstert Maria. Das Zimmer scheint immer dunkler und kälter zu werden. Vielleicht entspricht dieses Urteil der Wahrheit. Vielleicht hat sie die Lüge zu lange gierig aufgesogen wie einen süßen, giftigen Nektar und kann sie deshalb nicht mehr als solche erkennen. Vielleicht ist sie von ihr abhängig und muss wieder von ihr loskommen.
DIE LÜGE MUSS STERBEN, DAMIT DIE WAHRHEIT LEBEN KANN.
Maria senkt den Kopf. Ihr Finger auf der Plakette ist steif und sieht wie blau gefroren aus. Sie ist zu weit gegangen. Nun kann sie sich nicht länger wehren. Sie redet sich ein,
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