Unwiderstehlich untot
Fotoalbum.
Ich sah mich um, aber die beiden Magier waren nirgends in Sicht. Daraufhin ging ich in die Hocke und öffnete das Album mit zitternden Händen. Mircea verfügte über die Fähigkeit eines Diplomaten, stundenlang zu reden, ohne wirklich etwas zu sagen, und was er sagte, war oft mehrdeutig. Ich hatte bisher zwei Versionen darüber gehört, wie er zum Vampir geworden war, und ich wusste noch immer nicht, welche der beiden – wenn überhaupt – stimmte.
Aber Fotos logen nicht. Zumindest nicht so oft wie ein Meistervampir. Und plötzlich hielt ich ein Album in Händen, das Hunderte von Mircea-Fotos enthielt.
Allerdings war genau das nicht der Fall.
Die Fotos hatten ein gemeinsames Motiv, aber es betraf nicht ihn. Auf jeder Seite blickte mir das gleiche Gesicht entgegen, das einer schönen, dunkelhaarigen Frau etwa in meinem Alter. Sie vereinte dunkeläugige Erotik mit zierlicher Scheu und hätte selbst ohne Make-up und in einem unansehnlichen grauen Kittel für einen Verkehrsstau gesorgt. Allerdings trug sie auf den Bildern eng anliegende Kleidung, die ihre schlanke, athletische Figur zur Geltung brachte.
Ein Foto zeigte sie beim Essen in einem Cafe. Dabei trug sic altmodische Sachen, und ich vermutete, dass sie der Mode der vierziger Jahre entsprachen: ein weißes, kurzärmeliges Kostüm mit einem gestreiften Halstuch. Sie winkte mit einer Gabel und lachte jemandem außerhalb des Bildes zu. Ihr glänzendes Haar bildete einen kecken Knoten, der von einem Künstler zu stammen schien. Die Nase war gerade, neigte sich am Ende nicht nach oben. Die Wangenknochen wirkten wie von einem Bildhauer geformt, und offenbar hatte sie keine Sommersprossen. Sie hätte ein Modell für frühe Ausgaben von Vogue sein können.
Ich starrte sie an, das offene Album auf den Knien, und fühlte einen sonderbaren Schwindel. Außerdem fühlte ich noch etwas anderes, das ich nicht genau bestimmen konnte, aber es ließ meine Wangen glühen und brannte wie Säure im Magen. In diesem Zimmer gab es keine Fotos von mir. Nicht eins. Dafür war ein ganzes Fotoalbum dieser geheimnisvollen Frau gewidmet. Wer auch immer sie war – sie schien Mircea recht wichtig zu sein.
Wichtiger als ich.
Etwas traf die durchsichtige Folie, die das Bild schützte, floss zur Seite und wurde vom rissigen Ledereinband aufgesogen. Ich blinzelte noch mehr von dem Etwas fort und war auf eine vage Art und Weise erschrocken. Das ist dumm und kleinlich, dachte ich. An diesem Ort gab es genug, über das ich mir Sorgen machen konnte, aber stattdessen belastete es mich, mit wem Mircea vielleicht… Meine Güte, ich konnte den Gedanken nicht einmal zu Ende bringen, und das war noch dümmer.
Hatte ich vielleicht geglaubt, dass er fünfhundert Jahre lang eine Art Mönch gewesen war? Nachdem ich gesehen hatte, wie sich ihm Frauen zu Füßen warfen? Ich konnte doch nicht allen Ernstes eifersüchtig auf Dinge sein, die lange vor meiner Geburt geschehen waren, auch wenn sie schöne, kultivierte Brünette betrafen.
Ein Knistern veranlasste mich, den Blick zu senken, und ich stellte fest, dass sich meine Hand fest um die Seite mit dem Bild geschlossen hatte – die Folie war bereits zerknüllt, und das Foto darunter geriet in Gefahr. Na schön, vielleicht konnte ich doch auf solche Dinge eifersüchtig sein. Nicht nur vielleicht, sondern sogar ganz sicher.
Ich hatte deshalb nicht oft an Mirceas sexuelle Geschichte gedacht, weil ich die betreffenden Personen nicht kannte. Davon war ich bisher ausgegangen. Doch jetzt wurde ich nachdenklich.
Er stand der chinesischen Konsulin näher, als mir lieb war – sie hatte ihn schätzen gelernt, während er in diplomatischer Mission an ihrem Hof gewesen war, und noch immer schickte sie ihm jedes Jahr teure Geschenke. Er verstand sich auch ziemlich gut mit einer eisblonden Senatorin und einer feurigen schwarzhaarigen Gräfin – und das waren diejenigen, von denen ich wusste. Die Frauen unterschieden sich in Status, Persönlichkeit und Hintergrund, aber sie alle hatten eins gemeinsam: Sie waren hinreißend schön. Wie auch diese Frau.
Ich schlug das Fotoalbum am Ende auf, und dort erwartete mich ein weiterer Schock. Die Brünette erschien erneut, und diesmal joggte sie in einem Park, wobei die Schnur eines iPod über ihre linke Schulter reichte. Ich blätterte im Album zurück und stellte fest, dass die Bilder in chronologischer Reihenfolge angeordnet waren: alte Sepiatönungen, die vielleicht aus dem neunzehnten Jahrhundert
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