Unwiderstehliches Verlangen
dachte, du könntest ein bißchen rechnen.«
Sie rechnete nach und stellte zu ihrem Schrecken fest, daß der »kleine« Billy Montgomery inzwischen ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt sein mußte. Dann sagte sie lachend: »Du willst nur, daß ich mir alt vor komme. Mir ist, als wäre es kaum drei Jahre her, daß ich Chandler verlassen habe.« Und sie stöhnte, als Charley sie daran erinnerte, daß sie schon siebzehn Jahre verheiratet waren.
Und jetzt stand sie also, viele Jahre nach ihrem Weggehen aus Chandler, von Angesicht zu Angesicht dem kleinen Jungen gegenüber, der sich an sie geklammert und ihr geschworen hatte, er werde sie immer und ewig lieben. Allerdings sah er dem kleinen Jungen, den sie gekannt hatte, kaum noch ähn-lich. Er war sicherlich einen Meter sechsundachtzig groß, hatte breite Schultern, schmale Hüften und ein sehr gut geschnittenes Gesicht. »Komm rein!« sage sie. »Du kriegst auch heiße Schokolade und Kekse.« Sie wollte sich damit selber beweisen, daß Billy im Vergleich zu ihr immer noch ein Kind war. Auch wenn es ihr schwerfiel, in ihm den kleinen Jungen von damals wiederzuerkennen.
Er bedeutete ihr, daß sie vorausgehen solle, und sagte: »Kaffee wäre mir lieber.«
Sowie sie im Haus waren, fühlte sie sich beklommen und huschte hierhin und dorthin, um ihre Verlegenheit zu verbergen. »Wie geht es deinen Angehörigen?«
»Es geht allen gut. Und deiner Mutter?«
»Ist vor zwei Jahren gestorben«, sagte sie und rannte in die Küche.
Billy folgte ihr auf den Fersen. »Das tut mir leid. Komm, ich helfe dir«, sagte er, und er holte über ihren Kopf hinweg eine Büchse mit frischen Kaffeebohnen aus dem Regal.
Jackie drehte sich langsam um. Ihr Blick traf auf Billys sonnengebräunten Hals. Sie hob den Blick und sah sein Kinn, das so kantig war, als hätte ein Zimmermann es mit der Handsäge angefertigt. Der Anblick raubte ihr den Atem. Sie fing sich wieder und entfernte sich ein Stück, obwohl es so aussah, als wolle er sie nicht aus seiner Nähe lassen. »Meine Güte, du siehst genau aus wie dein Vater. Wie geht es ihm übrigens?«
»Noch genauso wie vor vier Tagen, als du bei ihm warst.«
»Ja, natürlich. Ich...«
Billy lächelte wie über einen Witz, den nur er kannte. Dann zog er einen Stuhl unter dem Tisch in der Eßecke der hübschen Küche hervor und forderte sie mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen.
»Den Kaffee koche ich«, sagte er.
»Das kannst du?« fragte Jackie verwundert, denn sie gehörte zu den Frauen, die annahmen, ein Mann könne nur das, wofür er bezahlt wird oder wofür er Auszeichnungen bekommen kann. Sie war der Ansicht, Männer könnten Kriege führen und große Firmen leiten, wären aber ohne Hilfe einer Frau nicht einmal fähig, sich ein Essen zu machen oder passende Anzüge auszusuchen.
Billy schüttete die richtige Menge Bohnen in die Kaffeemühle und begann zu mahlen. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen. Ein leichtes Lächeln spielte um seine Lippen.
»Nun erzähl mir mal einen Schwank aus deinem Leben«, sagte sie, ebenfalls lächelnd. Dabei versuchte sie sich vorzustellen, daß sie einmal die Windeln dieses Mannes gewechselt hatte.
»Ich ging zur Schule, dann ins College, machte meinen Abschluß und helfe jetzt meinem Vater, wenn er mich braucht.«
»Bei der Verwaltung der Montgomery-Millionen, stimmt’s?«
»Mehr oder weniger.«
»Keine Frau? Keine Kinder?« Für sie war es undenkbar, daß ein Kind, bei dem sie den Babysitter gespielt hatte, eine Ehefrau, geschweige denn selber Kinder haben könnte.
»Ich habe dir doch einmal gesagt, daß du die einzige Frau bist, die ich jemals lieben werde. Das war an dem Tag, als du weggingst.«
Das brachte Jackie zum Lachen. »An dem Tag, als ich hier wegging, warst du gerade acht Jahre alt und hast mir mit der Nase so eben bis zur Gürtelschnalle gereicht.«
»Seitdem bin ich aber gewachsen.« Er drehte sich um und schüttete das Kaffeemehl in die Kanne. Es war wirklich nicht zu übersehen, daß er inzwischen gewachsen war, und zwar ganz prächtig. »Ja, und wie geht es deinen Angehörigen?« fragte sie bereits zum drittenmal.
Billy holte die Brieftasche heraus, entnahm ihr einen Stapel Fotos und reichte sie ihr. »Meine Neffen und Nichten«, sagte er. »Oder wenigstens einige von ihnen.«
Während der Kaffee zog, beugte er sich über sie und erklärte ihr die Fotos. Einige waren Gruppen-, andere Einzelbilder. Es gefiel ihr, daß der Mann Kinderfotos bei sich hatte, daß er von jedem
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