Unwiderstehliches Verlangen
folgte. Einer seiner älteren Brüder hatte einmal zwei Jungs verprügelt, weil sie William verspottet hatten. William selbst hatte nichts darüber verlauten lassen, aber seine Schwester hatte die Jungs gehört und es ihrem Bruder gesagt, woraufhin der sich die beiden gehörig vornahm.
Jackie hätte vermutlich auch nie erfahren, was die Jungs zu Billy gesagt hatten, wenn ihr nicht aufgefallen wäre, daß er sich danach einige Tage nicht bei ihr blicken ließ. Also schlenderte sie zu seinem Elternhaus — natürlich nicht seinetwegen, sondern weil seine Mutter vielleicht einen Auftrag für sie haben könnte.
William fegte gerade Laub von der riesigen Rasenfläche vor dem Montgomery-Haus. Die Harke war ungefähr doppelt so lang wie er. Sein älterer Bruder lag unter einem Baum und schlief. Er hatte ein weithin schillerndes blaues Auge, mußte also bei der Prügelei auch etwas abgekriegt haben. Billy wollte ihr nicht sagen, was los gewesen war. Also weckte sie seinen Bruder und fragte den. Während Billy sich von keinem einschüchtern ließ, mochte er noch so groß und alt sein, ließ sich sein Bruder von ihr, der Älteren und Größeren, sofort beeindrucken und rückte mit der Sprache heraus. Einige Jungs, ungefähr vier Jahre älter als Billy, hatten gelangweilt an der Brücke rumgelungert. Da hatte einer von ihnen gesagt: »Wir könnten ja ein Wettrennen veranstalten. Billy gegen eine Schnecke. Ich setze auf die Schnecke.«
Jackie hatte Mühe, sich das Lachen zu verbeißen, aber erst als sie nachmittags allein war, wand sie sich in Lachkrämpfen. Zur Strafe dafür, daß er die beiden Jungs verprügelt hatte, mußte Billys Bruder auf Geheiß seiner Eltern das Laub vom Rasen harken, aber Billy hatte ihm diese Arbeit freiwillig abgenommen.
Jetzt, nach so vielen Jahren, fragte sie Billy, den Mann: »Hast du in letzter Zeit mal wieder an Schneckenrennen teilgenommen?«
Sie sah ihm deutlich an, wie er sich abmühte, den Sinn ihrer Frage zu verstehen. Schließlich fiel ihm die alte Geschichte wieder ein, und ein Leuchten zog über sein Gesicht. Mit glänzenden Augen sagte er zu ihr: »Mein Bruder war wütend über die Bemerkung dieses Jungen. Mir hatte sie gar nichts ausgemacht. Ich hielt die Jungs nur für dumm, weil sie nichts Besseres mit sich anzufangen wußten, als blöde rumzureden. Die begriffen einfach nicht, daß man sein Leben Tag für Tag planen muß. Darin liegt ja schon das halbe Vergnügen. Kann sein, daß sie mich für einen Langweiler hielten, weil ich nicht viel sagte, aber schon damals habe ich immer Pläne für die nächsten beiden Tage geschmiedet.«
Nach einer Weile fuhr er fort: »Inzwischen habe ich eine Erfahrung gemacht, die anderen vielleicht verborgen geblieben ist: Wenn man intensiv plant, entwickeln sich die Dinge oft nach Wunsch.«
»Ja«, sagte sie, verkniff es sich aber zu fragen, was er sich denn wünschte. Sie wollte es gar nicht hören. »Daran sehe ich, daß du mich verstehst. Du warst eben anders als die anderen, ohne daß du es darauf angelegt hättest. Und so war es auch bei mir. Weil sie mich nicht in ihre Clique aufnahmen, rümpfte ich die Nase über sie und sagte ihnen, daß ich sie gar nicht nötig hätte. Und das redete ich mir selber auch ein.«
»Und dann hast du dich verliebt«, sagte er leise.
»Du meinst in Charley?« fragte sie ungläubig.
»Nein. In etwas, das ein bißchen größer war als Charley.«
»Ach ja, in Flugzeuge«, sagte sie lächelnd. »Weißt du, früher habe ich in Flugzeugen immer etwas Männliches gesehen. Aber je älter ich wurde, um so mehr war ich überzeugt, daß sie weiblich sind. Heute brauche ich sie mir nicht mehr untertan zu machen. Sie sind meine besten Freundinnen geworden, mit denen ich viele schöne Zeiten verlebt habe.«
»Und was ist mit Männern?«
Sie blickte zum fernen Horizont und gab keine Antwort.
Hartnäckig fragte er weiter: »Was willst du jetzt mit deinem Leben anfangen, Jackie?«
Sie sah nicht zu ihm hin, aber die innere Beteiligung, mit der sie sprach, war nicht zu überhören. »Etwas hat sich in mir verändert. Ich weiß nicht, was es ist. Viele Jahre lang wollte ich die ganze Welt erobern. Ich sah meinen Weg klar vor mir und wußte, wie ich ihn gehen würde. Aber nachdem ich alles erreicht habe, was zu erreichen war, weiß ich nicht mehr, was ich nun anfangen soll. Einerseits verdrießt es mich, daß es in der Welt weitergeht, während ich stagniere, und andererseits finde ich es schön, einfach still dazusitzen
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