Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Anschläge bedürfen die Menschen eines bestimmten Rhythmus, benötigen Zeit. Sie brauchen diese Zeit, um zu sich zu kommen. Sie brauchen diese Zeit, um zu verstehen, was geschehen ist. Und sie brauchen sie, um sich die Dinge bewusst zu machen, sich zu organisieren, um mit der Rache, der Abrechnung zu beginnen … Und wenn dieser Prozess die nötige Zeit bekommen hat, dann gibt es wahrlich kein Halten, kein Zögern mehr. Bei uns wird die Zeit jetzt reif. Und man kann nicht wissen, wo sie und vor wem sie zurückweicht. Heute werden die »großen Verbrecher« ausgeforscht, morgen die kleinen, übermorgen die persönlichen Gegner und dann jeder, der irgendjemandem gerade in den Sinn kommt. Ich fühle auch in mir eine gewisse Disposition zum Hass. Ich lege mir Zügel an, schade keinem, überlasse die Rache Gott und den Menschen. Der hiesige Pfarrer, ein Pfeilkreuzler, wurde abgeholt, sein Nachfolger, ein alter Pfaffe, stachelt in zwei Predigten schon wieder zum Pogrom auf. Was kann ich tun? Er soll seinen Streit mit Gott und den Menschen ausmachen. Doch all das bedrückt mich immer mehr. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der die Menschen »gut« sind – die gibt es nicht –, sondern relativ gerecht und anstän dig. Deshalb will ich fort von hier.
Ich gehe nachts in den Garten hinaus. Die Schönheit der Welt setzt mich in Erstaunen. Der Mond mit seinem Schleier, das Laub der Bäume in feenhaftem Licht, die gleichgültige Würde des Wassers, die Grillen. Auch das Schreckliche steckt in dieser Schönheit.
Büchners Danton meint: Man soll mich lieber köpfen, als dass ich jemanden hinrichten lasse … In jeder Revolution kommt für jeden Beteiligten dieser Moment, in dem er sich entscheiden muss.
Ich habe gewählt und halte mich an Danton: Lieber soll man mich köpfen …
Der Ort hat einen missgestalteten Menschen: den Spezialisten für Jauchegruben, Kadaver, Wasserleichen. Er ist von gedrungener Gestalt, trägt einen buschigen Schnauzbart, brummt mehr, als er spricht, er murmelt etwas mit irgendeinem Sprachfehler in seinen Bart, hatte wohl einen Wolfsrachen. Alles, was an schmutziger Arbeit im Dorf anfällt, wird von ihm erledigt: Er leert die Senkgruben, fischt Leichen aus der Donau – heutzutage schwemmt der Fluss aus Richtung Wien täglich zwei, drei an; die meisten von ihnen sind nackt und gefesselt, sogar die Frauen! –, er deckt die verreckten Pferde und Hunde ab. Fungiert als Hundefänger, Totenbeschauer, Jauchegrubenentleerer in einer Person, er ist mit jeder Kloake im Dorf vertraut. Dabei ist er ein fröhlicher Mensch, redet während der dreckigen Arbeit mit sich selbst, ist gleichzeitig nekrophil und analerotisch veranlagt … Er ist glücklich in seiner Rolle. Sein Äußeres gleicht dem des Zwergs Hatschi in Disneys Zeichentrickfilm Schneewittchen .
Dieser Mensch hat jetzt geheiratet. Seine Frau ist dreißig Jahre alt, von sauberem Äußeren, mit regelmäßigen Gesichtszügen. M. geht mit ihr im Dorf spazieren, und als ich ihn zur Arbeit rufe – und zu was für einer Arbeit! –, sagt er stolz zu seiner Frau: »Siehst du, so ist das mit mir, ich werde überall gebraucht.« So prahlen junge Ehemänner vor ihren Frauen, um zu zeigen, wie sehr ihre Fachkenntnisse in der Welt gefragt sind. Auch M. glaubt an seine »Berufung« – und wirklich, in jeder Gesellschaft braucht man einen, der diese Arbeit macht. Das Problem ist in puncto Menschlichkeit unlösbar.
Mit L. in Budapest. Seit anderthalb Jahren leben wir das erste Mal wieder »städtisches Leben«. Wir essen in den Ruinen des Nationalkasinos zu Mittag, in einem heil gebliebenen, zum Gasthaus umgebauten Raum, der einen diskreten, seufzergleichen Namen trägt: Souvenir . Alle beleidigten Mohikaner der alten Welt kommen hierher, um zu »essen«. (Aristokraten speisen nämlich nie, sie »essen« nur. »Lasst uns essen gehen«, sagen sie.) Das Essen hier ist schwach und sündteuer. Aber wir treffen A. , der jetzt, nach anderthalb Jahren Gefangenschaft, aus Dachau heimgekehrt ist. Er sieht gut aus und ist wohlgenährt, sonnengebräunt. Ich freue mich sehr, dass er lebt. Zuletzt habe ich ihn am Abend des 19. März 1944 gesehen, als die Deutschen einmarschierten. Er war aus dem Außenministerium gekommen und berichtete mir in einem genauen, objektiven, kurzen Vortrag, was los war und was kommen würde. Dann umarmten wir einander und verabschiedeten uns. Am Abend wurde er festgenommen. Jetzt hat man ihn freigelassen. Er ist Diplomat, nicht von
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