Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
sechzehn Tagen Dunkelheit brennt heute in Leányfalu wieder das Licht. Ich habe das Radio eingeschaltet; auf Kurzwelle wurde Musik gesendet, raue, barbarische, vom Leben und der Entfernung nostalgisch-warme Musik. Ich lauschte der Musik, schloss die Augen und sah das Meer. Ich dachte an China, daran, dass mich in meinem Leben vielleicht noch wunderbare Dinge erwarten und ich die Welt sehen will.
Es gibt wieder Strom, der kleine Junge steht neben mir und schaut zu, wie ich das Radio einschalte. Er ist vier Jahre alt; jetzt sieht – und hört – er zum ersten Mal ein Radio. Seine blauen Augen funkeln. Diese Augen sind noch leer, es sind noch nicht Milliarden Erscheinungen der Welt auf sie gefallen, sie spiegeln alles wider, sie betrachten die Welt noch ohne den dunklen Strahl des Zweifels. Das Radio brummt. »So wie ein Motorrad«, sagt er zu diesem Geräusch.
Dann spielen die New Yorker Philharmoniker unter der Leitung von Toscanini; Tschaikowskis Musik schwingt und schallt im All, in der Stube in Leányfalu, im Herzen des kleinen Jungen; dann berichtet der englische Sender Einzelheiten von der japanischen Kapitulation und der Zerstörung Nagasakis. Der Junge ist ganz Ohr; jetzt spricht die Welt erstmals in einer unverständlichen Sprache zu ihm, in der Sprache der Musik und auf Englisch. Ich denke mir, dass dieses Kind vielleicht zur rechten Zeit geboren wurde. Die nächsten fünfundzwanzig Jahre können wunderbare Dinge bringen – eine Begegnung mit den Sternen, einen vorübergehenden Aufschwung auf der Welt, die ungeahnten Erlebnisse des Reisens! –, und von diesen fünfundzwanzig Jahren bleibt vielleicht, wenn ich mich nicht verzehre und Glück habe, auch für mich noch etwas übrig. Gerne würde ich mich mit ihm für das menschliche Unternehmen, das von der Atomenergie angetrieben wird, für die kommenden fünfundzwanzig Jahre verbünden.
Anscheinend gibt es eine Gesellschaft, die noch nichtsnutziger ist als die ungarische: die slowakische. Z. ist gerade aus Kaschau zurückgekehrt und hat bestürzende Nachrichten über die dortigen Verhältnisse mitgebracht, über die Vandalenakte der urplötzlich zu »Partisanen« gewandelten Hlinka-Garde in der slowakischen Gesellschaft. Dieses Volk, dem die gebildeten Tschechen die Bundschuhe aus und die Bataschuhe angezogen haben, das sie lehrten, mit Messer und Gabel zu essen (und die Slowaken waren dann die Ersten, die die Tschechen mit Messer und Gabel niederstachen!), hat Hitler gedient, die Slowakei war ein »Modell«-Staat für die Deutschen … und dieses Volk wendet sich jetzt mit wilder Wut gegen Juden, Ungarn, Deutsche, gegen alle, die nicht »christlich-slowakisch« sind. Die Russen sehen dabei zu und dulden es. Das ist kein Trost, noch weniger eine Entschuldigung, dennoch ist es eine Freude zu hören, dass … [unleserliche Zeile.]
Die kleinen Aufgaben des Alltagslebens, die man beinahe unmöglich lösen kann – die Probleme mit dem Mehl, die Beschaffung von Brot, das Holzmachen –, sind, als würde jemand unter dem Mikroskop eine besondere Krankheit beobachten, die Symptome des Zerfalls im gesellschaftlichen Organismus. Es gibt keine Arbeitsmoral mehr. Jemand, der einem per Handschlag und Ehrenwort verspricht, dass er eine Arbeit – für sündteures Geld, einen Lohn, der in der Proportion das Ausmaß der Geldentwertung noch übersteigt! – übernimmt: kommt in neun von zehn Fällen nicht und erledigt somit auch die Aufgabe nicht, die er übernommen hat. Dieses Verhalten ist heute schon so verbreitet, dass es geradezu auffällt, wenn einmal jemand sein Wort hält.
Bei elektrischem Licht lese ich bis Mitternacht die Schlussseiten von Prousts letztem Band. Dieses große Erlebnis und Geschenk habe ich dem hiesigen Elektriker zu verdanken, der sich meiner erbarmte und in einer Extraschicht – für die er nichts berechnete – in unserem Haus das Licht reparierte. Er ist eine Ausnahme. Ein alter Sozialdemokrat. Gehört zum besten ungarischen Menschenschlag: den alten sozialdemokratischen Arbeitern, die noch Arbeitsdisziplin, Arbeitsbewusstsein und Ehre besitzen. Die anderen – Bauern und Mittelschicht – haben sich daran gewöhnt, sich je nach der politischen oder Geschäftskonjunktur zu richten und auch ohne Qualität erfolgreich zu sein.
Im englischen, amerikanischen Rundfunk gibt es einen Pressespiegel. Die Zeitungen schreiben über die Atombombe. Ihre Stimmen sind unsicher. Der Großteil der englischen und amerikanischen Öffentlichkeit fühlt,
Weitere Kostenlose Bücher