Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Zerfall, ja, die Atomisierung, die Zerstörung des menschlichen Weltbilds.
Am Abend um zehn Lärm in der Zárdastraße, Hilferufe.
» Patrul, patrul! Hilfe! Ecke Zárdastraße! …« Jedes Haus, jedes Fenster, jeder Balkon wirft den Hilferuf zurück, gibt ihn weiter, Schüsse fallen, im Dunkeln rennen Menschen umher, auf den Balkonen Frauen und Männer in Nachthemden, sie schreien schrill in die Nacht, man schlägt auf Töpfe, stört den nächtlichen Frieden. An der Ecke wird geraubt. Später kommt die russische Patrouille im Laufschritt, fluchend und schießend. Dieses Bild ist absolut mittelalterlich. So etwas mag sich wohl zu Zeiten Dantes, der Guelfen und Ghibellinen bei Nacht in Florenz abgespielt haben.
Frauen, die während der Belagerung eine Vergewaltigung erlebten, berichten, das wirklich peinliche Kapitel der sexuellen Attacke sei erst hinterher passiert: Der Russe wurde danach sofort unerträglich zärtlich. Der Anschlag selbst war geschehen, und die Frau wollte nichts, als allein sein, sich zusammenraffen, körperlich und seelisch zu sich kommen … Aber nein, der Russe begann sofort zu plappern, saß voller Zärtlichkeit neben der Frau, mit der er meist nicht ein einziges Wort sprechen konnte, er zog ein Foto hervor – von seiner Mutter und seiner Schwester –, zeigte diese fremden Weiber, seufzte, sprach von einem kleinen Haus, das dort in Taschkent stehe, in der Stube brenne sogar elektrisches Licht, wie schön es wäre, jetzt dort zu sein … Das war am schlimmsten, sagen die Frauen.
Am Abend erzählt in Tahi ein alter Mann mit Zahnschmerzen so nebenbei, dass Japan jetzt – drei Tage nach dem ersten und einen Tag nach dem zweiten Atombombenabwurf – bedingungslos kapituliert habe.
Diese Waffe ist dazu angetan, alles, was die Menschen als Völker, als Mächte, als Gesellschaftsformen trennt, in ein gemeinsames Schicksal zu verschmelzen. Ja, sie zwingt selbst die Rassen, Wege zueinander zu finden. Diese Gefahr – die zerstörerische Gewalt der heraufbeschworenen Weltkräfte – könnte die menschlichen Rassen zu einer einzigen elenden, aufeinander angewiesenen Familie werden lassen.
Alles ist ohne Relevanz: Klassenunterschiede, nationale Grenzen … so kleinliche Gesichtspunkte kennt die Atombombe nicht. Die Menschen werden dazu allerdings nicht imstande sein, werden mit raffinierter und wilder Wut nach dieser verhängnisvollen Waffe greifen, sie benutzen und schließlich alles zerstören. Was wir in diesen Tagen erleben, ist das größte Ereignis in der Geschichte der Menschheit, das bedingungslose, bewusst herbeigeführte Ende.
Für eine kurze Übergangszeit – vielleicht ein paar Jahre oder Jahrzehnte – kann die Atomenergie (und die Angst vor der neuen Waffe) der Menschheit Frieden bringen. Die neue Kraft könnte die Kohle ersetzen, das Öl, revolutioniert den Verkehr, aus der Welt wird one world , wie Willkie es prophezeite. Doch das ist nur ein Übergang. Der Mensch kann nur tief in seiner Seele gerettet werden; aber wenn es ihm gut geht, wird er noch raffgieriger und gnadenloser. Und ihre Seelen sind von keinem schrecklichen oder schönen Erlebnis, keiner Erfahrung zu besänftigen. Die Schriftsteller, die Priester sind hilflos; alle Erfahrung lehrt mich das.
Die Prosagedichte Baudelaires funkeln für mich jetzt mit dem Glanz einer Augustnacht. Sie sind eine eigene Welt; menschlicher und künstlicher, natürlicher und übernatürlicher als die andere Welt, als unsere, in der wir leben und sterben.
Béla Balázs sagt, es sei kein Zufall, dass er als Einziger aus der Nyugat -Generation am Leben blieb: Er ist Kommunist, also glaubt er zutiefst an etwas, er hat etwas, wofür er lebt; und das hält ihn am Leben … Darin mag er recht haben; natürlich nicht auf die Weise, dass der Kommunismus ein lebensverlängerndes menschliches Unternehmen sein könnte; aber der Glaube ist auf jeden Fall so etwas. Damit man die zeitweiligen Heimsuchungen überlebt, mit denen uns das Leben Tag für Tag auf die Probe stellt, muss man tief an etwas glauben, und dieser Glaube gibt dann diesem zerbrechlichen Phänomen, dem menschlichen Leben, Halt … Doch dieser Glaube kann genauso gut Kommunismus wie Christentum sein. Woran hat Goethe dreiundachtzig Jahre hindurch geglaubt? An die »lebendige Natur«, deren Gesetze er beobachtete und an die er sich hielt. Und Tolstoi? … Überraschenderweise muss ich hier antworten, dass Tolstoi an nichts geglaubt hat. Trotzdem lebte er.
Nach sieben Monaten und
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