Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
dass die Atombombe den Beginn eines neuen, unermesslichen Unglücks bedeutet. Prometheus zittert, er wagt nicht in die Zukunft zu blicken. Das Feuer, das er jetzt buchstäblich aus dem Himmel gestohlen hat, blendet seine Augen.
Baudelaire traf, während er in Paris herumlungerte, eine Frau, die um jeden Preis einen Arzt als Geliebten haben wollte. In ihrer Wohnung hütet sie Fotografien bekannter Ärzte, die Geliebten ihrer Wahl waren stets Mediziner. Der Dichter hält das für eine Form der Perversion. Vielleicht suchte die Pariser Frau wahrlich perverse Abenteuer, als sie mit Ärzten zusammen war.
Aber die Frauen wählen im Allgemeinen, auch ohne besondere Perversion, gern einen Arzt zum Geliebten, weil das einfach am bequemsten ist. Sie kann ohne Aufsehen zu ihm in »Behandlung« kommen, der Arzt hat immer ein Zimmer für sich, in dem er die Patienten empfängt, sie muss sich vor ihm nicht der Geheimnisse ihres Körpers schämen, braucht sich nicht vor Krankheiten zu fürchten und auch nicht vor anderen Konsequenzen des sexuellen Beisammenseins. Beim Arzt frönen die Frauen sozusagen in Hausschuhen der Liebe.
Bis zum Nachmittag hat sich die Atmosphäre so sehr mit Elektrizität aufgeladen, dass auch das Radio verstummt. Lange Zeit tanzen seltsame Rundblitze übers Firmament, und pausenloses verwaschenes Grollen begleitet diese Erscheinung. Dann stürzt das Gewitter übers Land herein. Es ist unmöglich, nicht an Japan, an die Atombombe zu denken … Am Vormittag hat der amerikanische Rundfunk noch berichtet, dass in Japan eine »Selbstmordepidemie« ausgebrochen sei. Ich betrachte den Regen, lausche dem fernen Donnern und denke, dass die Welt eines Tages wohl so zu Ende gehen wird; der Mensch, dieser leichtfertige, bösartige Flegel, greift mit unvorsichtiger Pfote an die Sicherungen, die die Weltkräfte im Zaum gehalten haben, und die entfesselten Kräfte vernichten das Universum. Ich betrachte den Regen und sehe einen japanischen Garten, vom Regen durchnässt; von den Blättern der Platanen kullern fett die quecksilbergleichen Regentropfen. Der Mikado , dieser über hundertvierzig Generationen gezüchtete feine und traurige Irre, dem kein Sterblicher ins Angesicht blicken, dem sich auch seine Frau, die Kaiserin, nur mit Handschuhen nähern darf (gestern hat das ein amerikanischer Redner gesagt!), starrt aus dem Fenster seines Palastes in den Regen. In seinem blassen Gesicht ernste und feine Einfalt. Alles, was Menschen anstellen, ist zumindest genauso lächerlich wie tragisch.
Das kleine Mädchen ist abgereist, der Junge ist allein. »Hast du keine Angst?«, frage ich. »Wovor?« »Na davor, dass du dich langweilen wirst.« Ernst fragt er zurück: »Was ist das?«
Ich merke, dass jeder Schriftsteller so viel von seinem schriftstellerischen und moralischen Gewicht verliert, wie die von ihm erreichte parteipolitische Position wert ist.
Ich lese Büchners Drama Dantons Tod . Aus diesem unverhältnismäßigen Werk strahlt die Jugend wie Radium aus einem zerklüfteten Berghang.
Ich schlafe in Buda und wache um zwei in der Nacht auf. Traurigkeit, Verzweiflung schnüren mir die Luft ab. Die Gefühle sind stark wie nie zuvor. Alles ist völlig zwecklos: hier und auch draußen in der Welt. Dieser wilde Pessimismus ist natürlich eine Folge: 1) meiner manisch-depressiven Seelenveranlagung, 2) der Unbildung und Unmoral der ungarischen Gesellschaft, 3) der Erkenntnis der selbstmörderischen Absichten der Menschenbrut. Ein paar Bücher schreiben, dann sterben, voller Gleichmut.
Wenn doch die Welt nicht so wunderschön wäre! Die Dämmerung am Morgen! Die Seen, der Wald! Die Pflanzen, die Tiere! Ach, wären die Menschen, trotz all ihrer Armseligkeit, doch nicht so interessant!
Die fünfzigste Manuskriptseite von Befreiung ist jene Grenze, an der über das historische Rohmaterial, das furchtbar Reportagehafte hinaus, das Ganze in eine Sphäre der Vision und des Erlebnisses gehoben werden muss. Das ist kein einfaches Unterfangen, sind doch die Fundamente, auf dem dieses Erlebnis aufgebaut wurde, unheimlich mächtig und wirklich.
Ich mag keinen Wein. Ich trinke ihn nur, realiter, aber wie eine bittere Medizin mit widerstrebender Abneigung und weil es ohne ihn nicht geht.
Ich spreche mit einem Bankier. Er sagt: »In einem hat Marx unbedingt recht: Das Kapital erschrickt und verschwindet immer dann, wenn es am bittersten benötigt würde.«
Die Abrechnung braucht Zeit. Zur Beurteilung der grässlichen Verbrechen und
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