Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Angelsachsen ermuntern es freundlich, »Rückgrat« zu zeigen. Nur bricht es sich dabei eben das Kreuz. Doch davon spricht keiner.
Die Atombombe ist eine mächtige Waffe, doch nicht die Atombombe entscheidet über den Fortgang der globalen Entwicklung. Die Möglichkeiten des menschlichen Zusammenlebens kann für die großen Massen in Europa nur der Sozialismus organisieren: Und die Russen sind diesem anderen Sieg ohne Atombombe näher als die militärisch und wirtschaftlich mächtigeren Angelsachsen.
Orlando ist ein verblüffendes Buch. Reichtum steckt in diesem Buch, Überfluss, wahrer Pomp, die Poesie.
Was Woolf über die Krankheit des Schreibens sagt, ist über alle Maßen fröhlich und gleichzeitig düster real und tragisch wahr. Als würde jemand in beschwingten Strophen ein Krankheitsbild vortragen.
Schicksale. Viele erwarteten die Russen voller Angst, viele voller Hoffnung, freudigen Herzens. Dann sind die Russen gekommen, und viele, die sich vor ihnen fürchteten, bauten eine fabelhafte Beziehung zu ihnen auf, handelten mit ihnen, wurden im Amt, im Beruf gefördert, sind reich geworden, und andere, die sie ebenfalls voll Begeisterung erwartet hatten, siechten und darben in russischen Gefangenenlagern dahin. Es genügt nicht, Voraussicht zu üben, es genügt auch nicht, recht zu haben. Es scheint, man braucht auch noch Glück, um Gerechtigkeit zu erlangen.
»Die Juden!«, kreischen sie. »Jetzt sind sie immer noch da! Und wie sie sich aufführen! …« Aber sie können nicht erklären, was sie denn aufführen. Sie betreiben Schwarzhandel? Jeder schachert, anders kann man heute nicht überleben. Sie machen Politik, sind in der Polizei, ja sogar im Innenministerium? Ihre Eltern, Familienmitglieder wurden hingemordet, da ist es ganz natürlich, wenn sie jenem politischen Regime dienen, das Ordnung schaffen will. Nein, sie haben nur eine einzige Schuld auf sich geladen, die man ihnen nicht verzeihen kann: dass es sie gibt.
Orlando hatte, als er noch Mann und Lord gewesen war, nicht nur einen Kaplan und eine Hausdame, auch einen Mann für die Hasenjagd. Ein Hasenjäger zeugt von wahrhafter Vornehmheit. Wer hält sich heute noch jemanden für die Hasenjagd?
Zwei Wochen in Budapest. Ich habe eine Wohnung gekauft, jetzt lasse ich sie instand setzen. Ich verhandle mit Tischlern, Glasern, Malern, Ofensetzern, Rollladenmachern, Kammerjägern. All das kostet mich Hunderttausende, ist also billig. Und es ist wie eine menschliche Sommerfrische, nach den habgierigen, schamlosen, unersättlichen Bauern in Leányfalu und Umgebung mit selbstbewussten städtischen Handwerkern und Arbeitern zu verhandeln, die nicht wenig für ihre Arbeit berechnen, aber viel mehr menschliches, fachliches, ihrem Stand entsprechendes Verantwortungsbewusstsein besitzen als Bauern.
Aus Eger werden mir zwei meiner Koffer gebracht. Das Gepäck muss von Pest über die Donau in die Zárdastraße transportiert werden. Ich frage zwei frischgebackene Autobesitzer, ob sie mir ihren Wagen – natürlich gegen Vergütung der Kosten – nicht für eine Viertelstunde leihen würden? Alle beide schneiden Grimassen und lehnen ab. Ich werde schließlich mit Citrom-bácsi einig. Citrom-bácsi ist Laufbursche in der Druckerei der Zeitung Pesti Hírlap . In seinen freien Stunden erledigt er mit seinem Handwagen Gelegenheitsdienste.
Für vierhundert Pengő, also fast umsonst, bringt er mir die schweren Koffer von Pest nach Buda. Er verlangt nicht mehr; ich gebe ihm mehr, auch Wein und Zigaretten. Er sitzt bei mir im Zimmer, wir unterhalten uns. Er verdient wöchentlich eintausendvierhundert Pengő, also genug, um sich dafür einen Viertel Liter Speiseöl zu kaufen. Er sagt: »Das größte Problem ist, bitte schön, dass der Hass in den Menschen so übermächtig geworden ist. Keiner weiß mehr, was Liebe ist.«
Seit langer Zeit fühle ich das erste Mal, dass ich mit einem Menschen gesprochen habe.
Flugs und voller Eifer konstituieren sich alle möglichen Gesellschaften – ungarisch-amerikanische, ungarisch-englische Freundeskreise, in denen man die Beziehungen zwischen beiden Völkern pflegen will. Diese Tauben- und Kaninchenzüchter-Vereine vermehren sich wie eine Seuche. Es fehlt nur noch die ungarisch-mazedonische Gesellschaft oder der Zirkel, der sich der ungarisch-albanischen Freundschaft verschreibt. Noch fehlen sie, aber nicht mehr lange.
In diesen Gesellschaften ist jeder tunlichst Vorsitzender, stellvertretender Vorsitzender oder – wenn es keine
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