Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
diese Zeit – Ende Oktober – verbrachten wir die Tage in freiwilligem Stubenarrest; die Pfeilkreuzler wüteten im ganzen Land. Jetzt kommt endlich der Herbst zu Wort. Der kalte Sonnenschein glänzt wie ein bitter-duftender Lichtanstrich, Brunolin auf dem Mobiliar der Landschaft: rote, rotgelbe Bäume, die blassbraune Donau dehnt sich über die kahlen Felder hin. Diese Schönheit tröstet nach all den dummen, sinnlosen Tagen in Budapest. Am frühen Morgen gehe ich in dem von Raureif überzogenen Garten umher, schlürfe die kellerkühle Luft wie heurigen Wein. Flori, das Ferkel, wird brav immer dicker, und im Keller reift im Fass beharrlich der neue Wein. Der kleine Junge wandert mit mir durch den Garten und erzählt.
Er erzählt interessant, berichtet nur über das Wichtigste. Er ist ein ausgezeichneter Beobachter und erinnert sich genau. Prägnant spricht er über die Welt und die Menschen. Unser Verhältnis ist herzlich, aber nicht übertrieben vertraulich. Sein Egoismus ist ganz unverhüllt, er macht mir nichts vor, verheimlicht nicht, dass ihn nur seine Interessen an uns binden. Er ist bereit, in unserer Gesellschaft zu leben, könnte sich aber jeden Augenblick auch leichten Herzens von uns trennen. Dieser Egoismus entwaffnet mich. Aber er hat recht.
Der Herbst ist ein großes Geschenk. Ich habe die Wohnung in Buda eingerichtet, aber keine Eile, dort zu leben. Was könnte ich dort tun? Ich muss Ungarn mit dem ersten Zug verlassen, das Land, in dem eine unselige Gesellschaft mit allen Menschen des Geisteslebens, die gezwungen waren, hier zu leben und zu arbeiten, jenen ungeschriebenen Vertrag – den Vertrag über den Anspruch auf Moral und Qualität – aufgelöst hat. Und bis dieser erste Zug abfährt, lebe ich hier und dort, am Waldrand und in der Budaer Wohnung … in einer Freiheit, die fast schon Angst macht. So hat dennoch alles seine Ordnung.
P. , Mitglied der englischen Mission, sagt, die Atombombe habe drüben bei den Angelsachsen großen Schrecken ausgelöst. Diese Erfindung kann jetzt schon von allen erfunden werden: Wenn ein Forscher einmal der bekannten Spur folgt, ist es nur noch eine Frage des Geldes und der Technik, wann sich eine andere Macht die Atomenergie aneignen wird. Außerdem ist gefährlich, dass man zu ihrem Einsatz keine Flugzeugflotte benötigt; eines Tages wird ein Gangster sich allein mit irgendeinem schnellen Flugzeug aufmachen und auf die Hauptstadt eines fernen Reiches eine solche schreckliche Bombe abwerfen können, deren Gewicht einige hundert Kilogramm beträgt … und er kann dann schließlich ein ganzes Reich plündern. Vielleicht entwickelt sich die Welt in Richtung dieser neuen Gangsterherrschaft. Wenn es so stimmt, hat sie es nicht besser verdient. Denn gegen das Atom, das Gas, jede Art von Vernichtungswaffen kann man nur auf eine Weise wirklich ankämpfen: nicht mit Waffen und Armeen, sondern mit der Vermittlung von Bildung und der Moral. Dazu hat die Menschheit aber keine rechte Lust.
K.s Sohn – er war bei den serbischen Partisanen, geriet (und das als Jude) in russische Gefangenschaft, wo er an akuter Lungentuberkulose erkrankte und starb – gehört zu jenen Opfern des Krieges, deren Schicksal man nur sehr schwer erklären kann. Dieser Junge hat alles dafür geopfert, dass mit den Deutschen Schluss gemacht wird und er damit den Russen zu Hilfe kommen kann. Trotzdem ist die Gleichgültigkeit der Russen schuld, dass er in einem Gefangenenlager sterben musste.
K. wollte von einem GPU-Offizier wissen, warum nicht umsichtiger selektiert werde? … Der Offizier meinte, dass so große Säuberungsaktionen unvermeidlich mit einer bestimmten Fehlerquote einhergingen. Auf die Frage, wie hoch diese Fehlerquote bei ihnen sei, antwortete er gleichgültig, sie liege bei ungefähr fünfundzwanzig Prozent.
Der Herbst. Klare, kalte Morgen wie Quellwasser. Diese Kälte ist erfrischend, sie belebt. Nach dem unsteten Budapester Leben sind die vielfarbige, schreiend bunte Landschaft, der Duft, die Stille, die langen, von Grillen besungenen Nächte: ein wahres Geschenk.
An den ungarischen Schriftstellern, die aus Russland heimgekehrt sind, ist eine dunkle, klösterliche, noirmoutierende Nervosität , die Eifersucht zu spüren, die mit jeder Art der Emigration unweigerlich einhergeht. Und sie müssen erfahren, dass über ihren angestammten Platz zu Hause schon Gras gewachsen ist.
Am Vormittag Regen. Ich krame im Keller herum, koste mithilfe des Weinhebers den noch nicht ganz
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