Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
vergorenen süßen Wein. Der Kellergeruch, der Duft des Jungweins, das Rauschen des Regens, das herbstliche Orchester, das Rascheln des nassen Laubs und der fallenden Blätter, der Zauber des späten Oktobers versöhnen mich. Wenn das Schwein nicht gestohlen wird, werden wir es spätestens im Februar, wenn der Winter hier an der Donau besonders unbarmherzig ist, schlachten und ein großes Schlachtfest veranstalten, mit der üblichen beliebten Schlachtfestsuppe.
Bis dahin ist auch der junge Wein vergoren, etwa zwölf Prozent Alkohol sollte er wohl kriegen. Und in der Speisekammer habe ich zusammengetragen, was ich noch erwischen konnte: eine Menge getrocknete Zwiebeln, Salz, Kartoffeln und auch Mehl. Möglicherweise hat man uns bis morgen auch schon alles gestohlen – unter dem Schutz der Behörde oder dank Eigeninitiative. Dennoch ist dieses herbstliche, ländliche Herumkramen in Keller und Kammer nicht der schlechteste Zeitvertreib im Leben.
Und hier die Frage, die sich bei jeder Tätigkeit im Herzen der Ungeduldigen, sich Rüstenden stellt: weggehen von hier, ja? Die Beleidigung und Enttäuschung, die ich wegen der Unbildung und Unmoral der ungarischen Gesellschaft permanent verspüre, ist der Grund. Doch lockt mich da draußen wirklich etwas? Hier hält mich nichts, nichts bindet mich an dieses Land, nur die Sprache; doch dieses »nur« ist in Wirklichkeit fast alles für mich. Aber was ruft mich dort draußen? Landschaften? Die Niagarafälle, Wolkenkratzer? Suspekte Arbeit; um Dollars oder Pfunde zu verdienen, soll ich einem ausländischen Zeitungsverleger oder einem Filmproduzenten Ideen nach seinem Geschmack liefern, fürs Überleben das wenige verkaufen, was mir geblieben ist und was ich mir zu einem hohen Preis erkauft habe: meine schriftstellerische Unabhängigkeit? Denn ich bin heute, hier zu Hause, wirklich ein unabhängiger Schriftsteller; bin keiner Zeitung, keiner Partei verpflichtet; die Sorge um den Lebensunterhalt lastet auf mir, aber was können sie mir sonst tun? Dass sie mich aus diesem oder jenem Grund internieren oder verschleppen – doch das kann jedem passieren in diesen Tagen und solange die Welt sich dreht. Und selbst im Internierungslager bleibe ich ein unabhängiger Schriftsteller: Ich muss niemandes Geschmack bedienen. Das wenige, das zum Überleben nötig ist – oder das viele –, kann ich uns hier zu Hause auch ohne besondere Kompromisse verschaffen.
Nein, es gibt keine materiellen Gründe, die mich nötigen könnten zu gehen. Gehe ich von den materiellen Voraussetzungen aus, ist es klüger zu bleiben; auch in diesem Elend hier werde ich immer so viel verdienen können, dass ich nicht verhungern muss. Es ist etwas anderes, das mich von hier vertreibt. Die Enttäuschung … Und: noch einmal die Welt sehen, den Duft des Westwinds und des Ozeans einatmen, bei einem letzten Abenteuer aufgehen in der Unendlichkeit der Landschaft und der Menschenwelt.
Ich lese Miksa Falks Aufsatz über die Tage Széchenyis in Döbling . Bis zu seinem letzten Moment, auch im Irrenhaus, war dieser große Verwirrte darauf bedacht, ein edler Gastgeber und Hausherr zu bleiben.
Weinlese. Nach dem Aufteilen bleiben zwei Hektoliter Most in einem der Fässer im Keller. Garten und Haus füllen sich mit dem herb-gärenden, süßen Duft der Traubenmaische. Unten im Keller grollt das Mostfass. Dieses Grollen hat etwas Beruhigendes. Man schläft anders in einem Haus, in dessen Keller Wein heranreift.
Man würde anders, besser schlafen, wenn in der Nacht vor dem Fenster nicht geschossen und patrouilliert würde. Aber es wird geschossen und um Hilfe gerufen. Die Umgebung ist wieder bevölkert von Rotarmisten, die eher Plünderer als Soldaten sind; die russischen Militärbehörden sind ihnen gegenüber machtlos. Man sagt, es sei das Lumpengesindel der Wlassow-Armee . Wer auch immer sie sind, ihretwegen ist das Leben voller Angst, und sie richten unermesslichen Schaden an, in der ungarischen Bevölkerung und auch in den russisch-ungarischen Beziehungen. Diese plündernden Russen ruinieren die Chancen der russischen Außenpolitik in Europa, ja vielleicht in der ganzen Welt, in einem Maße, wie dies eine noch so intensive Gegenpropaganda nicht erreichen könnte. Die Rote Armee ist hier wirklich von allen, ohne Partei- und Klassenunterschiede, bang erwartet worden. Wenn die Russen umsichtig auftreten würden, könnten sie in diesem Teil Europas vielleicht nicht nur den Krieg, sondern auch den Frieden gewinnen. So wie
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