Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Doch auch unser neues Dienstmädchen, das nicht gerade eine appetitliche Erscheinung ist, das arme Mädchen, küsst er ebenso, und er schmeichelt ihr heftig. Ganz offen sichtlich küsst er nicht die Person, sondern genießt den Kuss und sucht dabei die Vorteile, die aus dem Schmusen und Schmeicheln folgen können. Diese Untreue schneidet uns ins Herz. Wir sind eifersüchtig. Doch wir haben genug gelebt und erfahren, um zu verstehen: Er ist untreu, weil er ein Mensch ist, liebt uns nicht wirklich, weil er weiß, dass wir ihn mehr lieben. Wir müssen es ertragen, dass er auch um die Gunst anderer wirbt. Wir müssen uns damit abfinden, dass er eine kleine Hure ist; denn er ist ein Mensch.
Ich weiß, ich habe noch Kraft. Doch ich spüre auch, dass ich lustlos bin, also auch in Richtung Tod spähe. Der Mensch stirbt, wenn ihn das Leben nicht mehr interessiert. Auch meine Arbeit interessiert mich nicht mehr gänzlich, absolut. Den Menschen kann man nicht helfen, und was für einen Wert hat das Schreiben, das Denken an sich? … Ich kann noch vierzig Jahre leben und schreiben – warum auch nicht? –, doch genauso gut kann ich heute Nacht für immer einschlafen. Und ich lehne mich innerlich gegen die Idee dieser Möglichkeit auch nicht auf.
Der Tod kann nur von der Liebe besiegt werden, für einige Zeit; doch ich glaube nicht an die Liebe. Ich bestreite nicht, dass es sie gibt; es gibt sie; sie ist von großer Kraft; ich habe sie kennengelernt. Aber diese Kraft interessiert mich nicht mehr. Ich kenne ihre Erscheinungsformen, das Material, das nötig ist, damit sie zum Leben erwacht, ihren Preis und ihre Folgen, die Voraussetzungen für sie und ihre Beschaffenheit. Ich kenne sie, soweit man die Voraussetzungen zum Leben kennt. Die Möglichkeit zu lieben lockt mich nicht. Der Tod ist eine ebensolche Kraft und vielleicht sogar noch absoluter, vollkommener.
Der kleine Junge und ich essen gemeinsam zu Mittag; heute haben wir über die »Eltern« in Jászberény gesprochen, über die alten Bauern, die ihn aufgezogen haben, nachdem er aus dem Waisenhaus zu ihnen gekommen ist. Und wir haben über Armut gesprochen.
Diese »Eltern« waren – wie der Junge erzählt – bettelarm und bedürftig. »Mama hat ein Kleid gehabt, aber das war ganz zerlumpt«, sagt er, »und ein Tuch, für den Winter. Der Papa hatte kein Ross und auch keinen Hund. Nur zwei Gänse, die hat er einmal gekriegt. Speck gab es nur ganz selten zu essen. In der Früh haben wir Brot gegessen, erzählt er, zu Mittag eine Suppe. Hier ist es besser«, stellt er dann fest, unbarmherzig, nüchtern.
Emotionslos spricht er über die Armut wie ein Erwachsener über eine Naturerscheinung.
In mir braut sich wieder eine Krankheit zusammen. Ich beobachte diesen Zustand wie ein Soldat die Angriffsvorbereitungen seines Gegners. Was hat er wohl vor? … Ich weiß, dass alles von mir abhängt, von meinem Willen, meinem Selbstbewusstsein, von meinem Mut. Zu irgendetwas hab ich keine Lust – wahrscheinlich zum Leben –, ich fürchte mich vor irgendwas – wahrscheinlich vor dem Leben; deshalb diese Meuterei in meinem Körper.
Ich werde streng zu ihm sein und versuchen, ihn im Zaum zu halten.
»Ende November.«
Ich gehe die Landstraße entlang. Weil sie keine Ochsen besitzt, hat eine Frau zwei Kühe vorgespannt und pflügt. Die Erde ist fett, sie gärt. Eine Frau schiebt ein kleines Mädchen im Kinderwagen. Lupus hat der Frau das halbe Gesicht zerfressen. Ich starre einen rostbraunen Hund an; er sieht aus wie ein verkleideter Fuchs. Wie bunt die Welt ist! Furchterregend und anziehend! Man kann ihrer nicht überdrüssig werden. Nur unsrer selbst können wir überdrüssig werden. Wir selbst sind, von innen gesehen, nicht so interessant.
Maeterlinck glaubt daran, dass eine Zeit kommen wird, in der der Mensch seiner Seele wieder näher ist; wie die Menschen im Osten, wie die Menschen der mystischen christlichen Jahrhunderte … Es gibt Zeitalter, in denen nur die Vernunft und die Schönheit regieren; und wieder andere, in denen Vernunft und Schönheit zweitrangig sind und der Mensch seine Seele unmittelbarer empfindet.
Für ein solches Zeitalter sehe ich kaum Anzeichen. Doch ich glaube daran, dass es im Leben eines Individuums Augenblicke gibt, in denen es sich gleichsam über seine Seele beugt und jener Tiefe näher kommt, die das Individuum selbst ist, und seine Seele in dieser Tiefe auch ansprechen kann.
In einem kaum beschädigten ebenerdigen Haus in der Zárdastraße
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