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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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vielleicht ein gebildeter, hilfloser Wiener oder bayerischer Junge gewesen sein kann.
    Dieses namenlose Soldatengrab auf einem öffentlichen Platz in Buda, mit einer zerschlissenen Militärmütze, die auf die Spitze des Kreuzes gestülpt wurde, könnte das größte aller lehrreichen Symbole sein. Aber auch dieses Symbol ist zwecklos, denn die Menschen brauchen den Krieg, die Grausamkeit, die Selbstzerstörung und die Aggression. Engländer und Amerikaner sprechen offen aus, dass sie im besetzten Deutschland mit Erziehung nicht viel bewirken können, weil die Deutschen aus ihrem Zusammenbruch nichts gelernt haben: Von Schuldbewusstsein, von der Fähigkeit zur Selbsterkenntnis gibt es bei den Deutschen – wie bei uns – keine Spur. Was wollen sie? Leben, ohne Lehren daraus gezogen zu haben, und morgen, so bald wie möglich, die für sie und alle anderen gefährlichen Raubzüge von Neuem beginnen.
    Madariaga glaubt an das Christentum und den freisinnigen Humanismus. Viele von uns glauben an das Christentum und den liberalen Humanismus; ich glaube nur nicht mehr daran, dass das Christentum, der Liberalismus und der Humanismus die menschliche Natur ändern und erziehen können.
    Die Atombombe und all die anderen unbekannten und furchtbaren Waffen, auf die die Staatsmänner schon anspielen: Sie sperren die Menschen in ein ganz besonderes Gefängnis. Dieses Gefängnis ist eine Welt, die mit einem gewalttätigen, künstlich herbeigeführten Ende ausgeschlagen ist. Dieser Gefangenschaft kann man nicht entfliehen.
    Es gibt keine gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische Flucht … Eine Möglichkeit aber gibt es: Demut und die Freiheit der Kunst. Du bist sterblich, Mensch, und du bist so lächerlich sterblich und von künstlich erzeugten Gelegenheiten zum Sterben umgeben … Wende dich der souveränen Unendlichkeit der Seele, der Demut und der Kunst zu, wenn du dich in diesem Gefängnis noch für einen Augenblick fühlen willst wie ein Mensch.
    János, der kleine Junge, hat seinen Kampf gewonnen: Man kann ihn nicht mehr länger nicht lieb haben. Wir müssen uns zu ihm bekennen, er gehört zu uns.
    Womit hat er diesen Kampf gewonnen? Nicht nur damit, dass wir einsam sind und er diese Einsamkeit mit Leben erfüllt. Mit seinem Wesen hat er ihn gewonnen, ganz persönlich: weil er jemand ist, eine Persönlichkeit, weil er Humor hat, Verstand und Urteilsvermögen besitzt, Gefühl und Geschmack. Seit sechs Monaten lebt er bei uns, und er hat überlegen gewonnen.
    Ich kann mich an keine menschliche Erfahrung erinnern, die so innig gewesen wäre, die so viel Freude und Erlebnisse beschert hätte wie das Zusammenleben mit diesem Buben.
    Ich mag seinen Humor. Schließlich ist er viereinhalb Jahre alt, und in diesem Alter ist der Humor eine seltene Erscheinung. Seine schelmische Gewitztheit, wie er die Menschen sieht und dann vertraulich seine vernichtenden Beobachtungen mitteilt, mich unterhält und aufheitert – als würde ich Goethe lesen.
    Was wohl aus ihm werden mag? … Eine ewige und sinnlose Frage. Die Herkunft ist immer bestimmend … aber was wissen wir denn über die tatsächliche Wirkung der Herkunft? Das Ergebnis zählt, und das stellt sich sowieso heraus.
    Jetzt, da ich den Inhalt meines 43/44-er-Tagebuchs in Auszügen in diesem dicken Band sehe, spüre ich beruhigt, dass diese Arbeit gemacht werden, dass die Auszüge veröffentlicht werden mussten. Sicher wird es viel Aufhebens um dieses Buch geben; »meine Klasse«, zu der ich doch berechtigt bin ein paar Worte zu sagen, wird mir diese Worte niemals verzeihen. Damit muss ich mich abfinden; zu schweigen war mir nicht möglich. Und die andere Familie, die Nation? … Die Antwort der Nation ist komplizierter, wird nur ganz allmählich gegeben. Vorerst interessiert sie weit mehr, wie man im Chaos auch weiterhin abstauben, schmarotzen kann, als die Meinung irgendeines ihrer Söhne zu hören.
    Lektüre: die Briefe des Kaisers Julianus . In zweisprachiger französischer Ausgabe.
    Wusste dieser kluge Mann – und gute Stilist –, zweihundert Jahre nach Mark Aurel, dass das Reich, dem er vorsteht, eigentlich nicht mehr existiert? Wie ein Gebäude, das von Termiten zerfressen wurde: Es steht noch, steht dort, wo es immer stand, doch eine Windböe genügt, um es zu Staub zerfallen zu lassen.
    Das Gedicht Kiplings , dieses harte, schnalzende Lehrgedicht des englischen Imperialismus – »If …« –, ist kein »schönes« Gedicht, Shelley hätte es nicht gemocht. Man kann ein

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