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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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haben zwei alte Frauen ein Wirtshaus betrieben. Jetzt wurde die Weinschenke wieder eröffnet, und die Besitzer haben eine Tafel mit folgendem Text am Eingang aufgehängt: »Das Wirtshaus ist eröffnet! Bitte durch die Tür einzutreten!« An was für Gäste sie sich wohl in jüngster Zeit haben gewöhnen müssen.
    Bei der Probe im Theater. Klári Tolnay spricht ihre Rolle, und nach langer Zeit spüre ich wieder dieses Prickeln – Goethe hat es Schaudern genannt –, das ein untrügliches Zeichen dafür ist, dass jemand sein Handwerk versteht. Diese Schauspielerin beherrscht ihr Metier. Sie bringt keinen einzigen falschen Ton hervor, ihr Gehör ist absolut, und sie schafft mit winzig kleinen Mitteln, manchmal ohne jedes Mittel, das Unmögliche: Sie erweckt ein Schicksal zum Leben. [Durchgestrichener Eintrag.]
    Die Sache mit dem chinesischen Dichter ist keine schlechte Idee. Ich beschäftige mich damit, wie wenn jemand aus dem weichen Inneren des Brotes eine kleine Figur formt. Der Dichter hat schon ein Gesicht, Manieren, eine Stimme. Aber was mag er? Er liebt Wein, Gedichte und kleine Kinder. Den Wein liebt er im Übermaß. Er lebt weit entfernt von der Hauptstadt, die Parteisekretäre haben ihn vergessen. Im literarischen Leben erinnern sich nur noch ein paar Freunde an ihn. Er schreibt seine Verse auf Packpapier, ganz gemächlich. Schreibt wehklagend von Wildgänsen und dass es im Leben keine Freuden gibt. Dann schreibt er hämisch darüber, dass der modische Schriftsteller in der Stadt – aus der man ihn, den armen, vergessenen Dichter, verbannt hat – ein unglaubliches Rindvieh ist. Wir beginnen uns kennenzulernen. Er weiß schon, dass einige seiner Gedichte von Kosztolányi – aus dem Englischen – übersetzt wurden, ins Ungarische; aber nur so nebenbei, im Rahmen einer Anthologie. Kosztolányi hat mehr von Li Tai-peh übersetzt. Auch davon weiß er, und es schmerzt ihn. Doch er ist ein wohlerzogener Mensch, und so spricht er nicht darüber.
    Gábor Devecseris kleines Büchlein über Kosztolányi ist eine hilfreiche und saubere Arbeit. Sie erinnert mich an Gautiers Abhandlung über Baudelaire: So muss man über einen Dichter sprechen, mit der Stimme eines Reiseführers, eines Cicerone, der in eine Welt führt, die er perfekt kennt, und der dennoch, während er uns herumführt, immer wieder staunt, wie schön und reich diese Welt ist.
    Kosztolányis größte Stärke ist diese nie endende, nie müde werdende Sinnlichkeit, diese elektrisierte Erregung und Aufmerksamkeit, mit der er auf die Erscheinungen der Welt reagiert. Er war niemals faul oder träge, wenn er die Welt betrachtete. Das ist eine große Begabung.
    Winterwind. Mein größter Feind. Ich kämpfe nicht gegen ihn, ich verteidige mich nur. Untertänigst warte ich darauf, dass er mich mit seinem eisigen Dolch verletzt.
    Der kleine Junge langweilt sich unter uns Erwachsenen. Womit soll ich ihn unterhalten? Soll ich ihm aus Woolfs neuem Roman vorlesen? Oder aus dem kleinen Däumling? Aber dann langweile ich mich. Es gibt keinen Ausweg, jeder muss sich in jedem Lebensalter, nach seinen eigenen Gesetzen langweilen.
    Zwei unbedingte Erkennungszeichen des souveränen Menschen: Mut – der nie mit seiner zähen Kraft prahlt – und Demut. Mut ohne Demut ist lediglich Nervosität.
    Ich habe das wichtigste ungarische Buch gekauft und lese es jetzt: das neue Lehrbuch der Geschichte für die Bürgerschulen, das schon dem demokratischen ungarischen Lehrplan entsprechend zusammengestellt, geschrieben und herausgegeben wurde. Eine aufregende Lektüre. Wenn ich es richtig bedenke, hängt von der Wirkung dieses Buches alles ab.
    Und mir scheint, dass auch der Autor des Buches zaghaft ist. Er spürt seine Verantwortung, muss aufrichtig über tausend Jahre alte Lügen sprechen … eine übermenschliche Aufgabe, nicht nur für Pädagogen, auch für Dichter und Schriftsteller.
    Im Radio singt eine Sängerin – ich glaube, Galli-Curci – eine große Arie und schmettert das hohe »C«. Der kleine Junge hört so etwas zum ersten Mal. Er blättert in einem Bildband, schaut zerstreut auf, lauscht der Stimme und sagt: »Jetzt wird das Schwein gestochen.«
    Stundenlang gehe ich im Wind am Donauufer entlang. Als würde der Novemberwind irgendetwas aus mir herausfiltern. Hat mich all das, was geschehen ist, wirklich nichts gelehrt? Vielleicht doch. Und Befreiung – auch wenn das Manuskript längere Zeit in meiner Schublade verstauben wird – was zählt das schon? –, es hat

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