Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
mich, würde ich wahrscheinlich nicht mehr leben wollen.
Die Hochachtung vor Bildung und die Sehnsucht nach ihr sind bei den Russen groß. Es wird allerdings hundert, zweihundert Jahre dauern, bis diese Sehnsucht zur täglichen Realität wird. Denn Bildung kann man nicht erlernen, man muss sie auch erben. Ohne Erinnerungen ist es schwer, wirklich gebildet zu sein; die Reflexe fehlen. Doch ihre Sehnsucht ist unersättlich, und Zeit haben sie. Zusätzlich zu der Sehnsucht werden sie sich die Jahrhunderte und Erinnerungen beschaffen.
Ich gab ihnen ein altes Esquire -Heft ; das ist eine besondere Methode, sie zu zähmen; gierig blättern sie darin. Besonders die Anzeigen starren sie an: die farbigen bedruckten Seiten, die von Qualität und großem Angebot berichten. Das ist neu für sie; es interessiert und erregt sie.
Diese besondere, höhere Stufe der Fähigkeit, zu hören, zu empfinden, zu unterscheiden, und der Sinn für die Reichhaltigkeit des Sortiments, die ein Westeuropäer im Augenblick seiner Geburt mit auf die Welt bringt: Das ist jenes Plus, zu dem viele Jahrhunderte und viele Erinnerungen nötig sind.
Vorerst ist es eher die fachliche Ausbildung, die sie Bildung nennen; und es fällt mir schwer, ihnen zu erklären, dass das nicht ein und dieselbe Bildung ist. Wilde Kraft steckt in ihnen, ein gnadenloser Optimismus, frische Energien.
Sedlatschek hat irgendwo eine Standuhr aufgetrieben, die melodiös die Moskauer Zeit schlägt: zwei Stunden mehr als unsere. Denn sie haben die Moskauer Zeit mit sich gebracht, ihre kyrillischen Buchstaben, all das, was sie vom Westen trennt. Sie wollen es so, und mit Sicherheit wissen sie – auch gegen den Willen Peters des Großen –, warum.
Der Sympathischste unter ihnen ist ein älterer Moskauer Mechaniker; ein ruhiger Mensch, reinlich, er hat sich ein eigenes kleines Lager in einer Ecke eingerichtet und bemüht sich, dort irgendwie Ordnung zu halten. Er bat uns, sein Hemd zu waschen und seine Bettwäsche; seine Bitte klang sanft und traurig, und er gab uns zum Waschen auch gleich Seife und holte Wasser. Man sieht ihm an, dass er alles um sich abgrundtief hasst, den Krieg, den Dreck, seine Umgebung.
Hassan, der Taschkenter, war im Zimmer, als ich dem Befehlshaber die Geschichte vom Raub erzählte; eine halbe Stunde später sah ich ihn, wie er sich traurig die Dachbodentreppe herunterstahl; er wusste aus meiner Erzählung, dass man auf dem Dachboden geraubt hatte, und war schnell hinaufgelaufen, um nachzusehen, ob nicht irgendwas auch für ihn übrig geblieben wäre. In seinem asiatischen Gesicht mit den schiefen Augen spiegelte sich tiefe und unverhüllte Traurigkeit wider, weil andere geschickter und flinker gewesen waren.
Irgendwann – als wäre es vor sehr langer Zeit gewesen, so scheint es mir heute manchmal – war es meine Aufgabe, das, was ich sehe, denke oder erlebe, schriftlich so genau wie möglich festzuhalten und auszudrücken. Ich hatte auch schon ein wenig Übung in diesem eigenartigen Handwerk.
Doch jetzt meine ich, nicht genau beschreiben zu können, in welcher Lage wir uns befinden. Es bietet sich die Möglichkeit zum Gleichnis: Auf dem Deck eines drittklassigen Auswandererschiffs unter europäischen und asiatischen Auswanderern, zwischen Heimatlosen – Ungarn, Juden, Russen, Taschkenter, Chinesenartige, Ukrainer liegen hier zusammen im Dreck, in unseliger Zuversicht – treiben wir einem unbekannten Ufer entgegen. Doch dieser Vergleich ist schwach; die Wirklichkeit ist anders, reicher, bodenständiger und farbiger, erbärmlicher und bunter.
Für die Offiziere wird extra gekocht, die Mahlzeiten bestehen aus mehreren Gängen und sind gut; keine Gesellschaftsordnung kann die menschliche Natur verändern.
Und ich glaube nicht, dass das Elend einen irgendetwas lehrt; von außen gibt es nichts zu lernen. Sich wirklich weiterentwickeln kann man nur dank der Lehren, die man aus den Erlebnissen im Innern zieht.
Diese unsere Lage ist so ziemlich der Tiefpunkt in meinem Leben; das Nächste kann nur mehr sein, dass der Krieg uns auch aus diesem Drecklager verdrängt und wir in irgendeinem Erdloch hungern und frieren müssen.
Und trotzdem fühle ich in diesen Tagen: Alles ist gut so, alles hat seine Ordnung. Weil alle schuldig sind und wir alle bezahlen müssen, mit allem, was wir besitzen; womöglich auch mit unserem Leben.
Und dennoch haben wir kein Recht, uns zu beschweren; dieses Schicksal haben wir uns selbst ins Haus geholt. Wir haben Russland den
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