Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Witzblatt, wie früher der Jude in der Zeitschrift Borsszem Jankó : eine Gestalt mit Schläfenlocken und Hakennase, die fehlerhaft Ungarisch spricht … In ihren Augen ist ein Burschui ein dicker Mann, der einen Ledermantel trägt und von der Arbeit anderer lebt. Sie erklären mir, dass ich kein Burschui sei, denn auch Ärzte, Ingenieure seien keine; wir sind geistig Schaffende, die schwere Arbeit vollbringen, darum haben wir mehr Recht auf ein besseres Leben als jene Ungelernten, die nur einfache, physische Arbeit tun, weil sie nicht genug gelernt haben oder faul und unbegabt sind.
Im Dorf haben die Leute der GPU begonnen, die Pfeilkreuzler zusammenzufangen. Ich würde niemals auch nicht meinen persönlichen Feind verraten, doch nach alledem, was ich in den vergangenen zehn Monaten erlebt habe, wäre ich ebenso wenig gewillt, auch nur einem einzigen dieser Verbrecher Zuflucht zu bieten. Ich schreie nicht nach Rache, doch beobachte ich ihr Schicksal mit Gleichgültigkeit; man hat sich jegliche Empfindsamkeit abgewöhnt.
In der Nacht wurden wir ausgeraubt. Es ist nicht das erste Mal passiert, haben uns doch einsame Plünderer in Uniform schon einige Male besucht und kleinere Sachen mitgenommen – der Vorwand ist stets, dass sie nach Deutschen suchen –, sie nahmen unser weniges Mehl mit und auch andere Vorräte. Doch der Raub in dieser Nacht war schlimmer: Auf dem Dachboden hatten wir unter einem Balken in einer flach gedrückten leeren Lucky-Strike-Schachtel unser Geld versteckt, viertausend Pengő, in einem Topf ein wenig Schmalz, fünfzig kleine Päckchen Pfeifentabak (sie schmerzen am meisten), eine Flasche Schnaps, ein paar Flaschen Wein. Viel mehr war uns auch nicht mehr geblieben. Wir haben den Dieb gehört, wie er auf dem Dachboden herumstöberte; als ich in die Diele trat, rannte der Dieb gerade an mir vorbei und verschwand im dunklen Garten. Zwei von den Älteren rannten ihm nach; natürlich vergeblich.
Unser Haus, in dem man vor vier Tagen eine kleinere Kaserne und eine ansehnliche Autowerkstätte eingerichtet hatte, ist nicht wiederzuerkennen. Es starrt nicht vor Dreck, der Dreck fließt, bahnt sich seinen Weg überallhin. Die Klosetts sind voller Exkremente, man kann sie nicht benutzen. Aus dem Brunnen lässt sich kein Wasser schöpfen, weil sie den Eimer hineinfallen ließen. All das nehme ich ohne inneren Aufruhr zur Kenntnis. Der heilige Franz von Assisi starb eines Tages, und man legte ihn nackt auf die bloße Erde; und das war nicht der schlimmste Augenblick in seinem Leben, sagt Chesterton .
Ein himmellanger Moskauer Mechaniker nahm gestern, als ich mich mit Hassan, dem Taschkenter, über die asiatische Abstammung der Ungarn unterhielt, die Pfeife aus dem Mund und sagte in ernstem Ton: »Ja, die Ungarn haben jetzt in Russland bewiesen, dass sie aus Asien kommen.«
Was wir in diesen Tagen erleben, ist die Wirklichkeit. Sicher, es ist immer nützlich, die Wirklichkeit kennenzulernen. Alles muss man kennenlernen, muss ganz tief hinabsteigen in diese Grube; und dann entweder auferstehen oder dort bleiben.
Am Abend unterhalte ich mich mit dem jüdischen Ingenieur. Gibt es daheim noch Priester? Es gibt Priester, und sie werden vom Staat bezahlt. Wer geht in die Kirche? Wer will. Gibt es Steuern? Es gibt Steuern; zwölf Prozent des Einkommens und darüber hinaus zwei Prozent für die Krankenversicherung. Ist die Wahl des Arbeitsplatzes frei? Sie ist frei; wenn jemandem ein Arbeitsplatz nicht gefällt, kann er sich einen anderen suchen, und er selbst bestimmt die Bedingungen. Überzähliges Geld kann der Sowjetbürger auf die Bank bringen, wo er drei Prozent Zinsen dafür bekommt. All das ist interessant, aber nicht sicher; die Angaben widersprechen sich; die Ingenieure sind außergewöhnlich vorsichtig, durchtrieben und auch nicht immer informiert.
Vielleicht ist diese Art von Leben – zu viert, zu fünft in einem Zimmer, die Küche mit Fremden teilend, keine Möglichkeit, sich zu waschen oder allein zu sein – nur das Vorspiel der Zukunft, die uns alle in Ost- und Mitteleuropa erwartet. Dieses Vorspiel haben wir in diesen Tagen erlebt.
Kann man denn so leben? Mit wenig gebildeten oder völlig ungebildeten Menschen im gemeinsamen Schicksal gefangen? Auf solche Fragen gibt das Leben blitzschnell Antwort. Natürlich kann man auch so leben; vielleicht sogar für lange Zeit, sicher ist nur, dass ein Mensch wie ich so nicht arbeiten kann. Und wäre diese Lebensweise eine endgültige Gewissheit für
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