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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Kleidung aus den verlassenen Villen, Lebensmittel, Fahrräder einer vom andern, einfach alles. Das wird so lange dauern, bis Buda fällt, bis die Front weiterzieht und die ungarische Verwaltung irgendeine Ordnung schafft. Dazu braucht es aber viel Zeit. Bis dahin stiehlt jeder mit beiden Händen und für den leeren Magen.
    Ich glaube nicht, dass sich Schweden oder Dänen in derselben Situation so verhalten würden; ich muss mich jetzt aber endgültig damit abfinden, dass wir weder Schweden noch Dänen sind; wir sind Ungarn.
    Auch an mir selbst habe ich eine Veränderung entdeckt. Meine seelische Neigung – die von Schubart folgen der maßen definiert wurde: Rechtsordnung oder Liebe – gehörte seit dem Augenblick meiner Geburt immer der Rechtsordnung; ich bin Europäer, also Pessimist, und glaube nicht an die Anarchie der Liebe. Doch jetzt, da ich alles verloren habe, schmiede ich keine Pläne mehr, will ich nicht mehr steif und krampfhaft Ordnung halten, in die Zukunft blicken, mich absichern; alles in mir ist lockerer geworden, ich blicke gleichgültig auf das, was ich noch habe, ich hänge aufrichtig und von Herzen eigentlich an nichts mehr … Die Russen, die wirklichen Kommunisten, sind anders; sie kennen den Wert des eigenen Privatbesitzes genau und achten sorgsam auf jedes ihrer Bündelchen von Habseligkeiten. Ich jedoch, ein Zögling des kapitalistischen Westens, beginne gleichgültig zu werden; heute nimmt mir jemand weg, was ich gestern organisiert habe – Lebensmittel, Schuhsohlen –; morgen organisiere ich von irgendwoher anderes Zeug, das Nötigste; und alles andere ist unwichtig. Ich hänge an nichts mehr; wahrscheinlich auch nicht an meinem Leben, nicht wie irgendwann früher, vor einem Jahr.
    Man zuckt eines Tages mit den Schultern; braucht ein Loch, eine Ecke, in der man sich schlafen legen kann, tagsüber benötigt man was zu beißen, Tabak und Wein sind etwas Gutes; alles andere ist einerlei. Heizen kann man auch mit hochglanzgpolierten Möbeln. All das klang gestern noch wie aus einem Abenteuerroman; heute ist es Wirklichkeit.
    Ich spreche mit einer Dame; mit bitterem Lächeln erwähnt sie, dass sie am ersten Januar »noch zwei Dienstboten« hatte; und weil sie sich über sieben Ecken auch mit Literatur beschäftigt, erzählt sie voller Sorge von ihrer »nagelneuen Continental-Schreibmaschine«, die sie in Budapest zurückgelassen habe … Ich höre ihr nickend und Pfeife rauchend zu und denke daran, dass uns, L. und mir, das letzte Jahr den Übergang erleichtert hat; vor einem Jahr haben wir einen Lebensstil aufgegeben, wir erinnern uns nur mehr schemenhaft daran, wie es war, als man sich zwei Dienstboten und das dazugehörige Lebensumfeld hielt – und wie wenig wichtig das alles ist! Und was die Schreibmaschine angeht, der heilige Paulus hat noch ohne Schreibmaschine geschrieben, und mit welchem Erfolg! … Und wie viel Überflüssiges ich geschrieben habe, als ich noch eine Schreibmaschine besaß, nur damit wir uns die Wohnung und den Lebensstil leisten konnten, der zu den zwei Dienstboten passte! Es geht um etwas anderes. Vielleicht ist das einzig Gute an dem, was mit uns passiert, dass es uns näher an die Wirklichkeit des Lebens bringt, zum nackten Sinn unserer Arbeit und unseres Lebens ohne jedes Zubehör. Wenn wir ihm überhaupt näher kommen, denn der Mensch ist hoffnungslos.
    Der ungarische Mittelstand gleicht den Bourbonen: Er hat nichts gelernt und nichts vergessen. Jetzt, da der Himmel über ihnen eingestürzt ist, blinzeln sie, krächzen, räuspern sich, suchen nach ihrem Platz; leise schimpfen sie über die Pfeilkreuzler, weil sie hoffen, dass mit der Opferung eines Sündenbocks die Aufmerksamkeit von ihnen abgelenkt wird, sie klammern sich verzweifelt an die »Materie«, an Schmuck, Möbel, sogenannte Werte, spekulieren schon, und vorsichtig schachern sie auch wieder ein wenig, wagen sich langsam ans Licht … Aber drinnen, in den vier Wänden, weinen sie flüsternd und mit vom Hass blutleeren Lippen den Deutschen nach, jedes Gerücht, das sie im Rundfunk hören, geben sie stotternd, voller Hoffnung weiter; jetzt, da die Russen vor den Toren Berlins stehen, glauben sie immer noch an ein Wunder, an die neue Waffe oder klammern sich daran, dass Hitler gesprochen hat. Und sie wispern schon und murmeln, sie schimpfen auf die Russen, reden aber nicht darüber, dass wir den Russen den Krieg erklärt haben, sie posaunen Schauermärchen über russische Requirierungen und Gewalttaten

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