Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
aus, doch nicht mit einem einzigen Wort erinnern sie sich an das, was die Ungarn und die Deutschen in Russland angerichtet haben, wie viel sie geraubt, wo und wen sie ermordet haben. Diese abscheuliche Brut organisiert sich bereits ihren eigenen Widerstand und glaubt, es würde irgendeine Art polternden Übergangs geben, einen kleinen Volksgerichtshof, ein bisschen demokratisches Durchkämmen, ein paar Pfeilkreuzler würden gehängt – sie, genau sie, möchten dazu gerne die Titel liefern! –, doch dann verlöre sich all das im Alltag, und alles würde sein, wie es früher einmal war. Sie selbst könnten ihre geheimen und öffentlichen Machtpositionen behalten; die abgedankten Offiziere und kaltgestellten Beamten würden von Neuem mit der Organisation der Reaktion in kleinen Gasthäusern und Rudervereinen beginnen, und eines Tages erfände ein Deutscher irgendein Gas oder ein Geschoss, und der nächste Krieg könnte losgehen, ihr Krieg, und sie würden siegen und wieder die Mächtigen sein! Ähnliches flüstern sie schon, vorerst noch sehr leise, aber unermüdlich, in den eigenen vier Wänden. Sie haben nichts gelernt, sind hoffnungslos korrupt, sittenlos, ungebildet und grausam. Und sie schimpfen schon wieder und immer noch auf die Juden, in den vier Wänden, und verdächtigen auch jene schon, die sich der schweren Arbeit der unumgänglichen Veränderung und Abrechnung angenommen haben, dass sie Juden seien oder Judenfreunde oder von Juden gekauft. Mit dieser Brut kann man keinen Frieden schließen. Wahrscheinlich könnte man sich ihrer auch nicht anders entledigen, als man sich seinerzeit des russischen Mittelstands entledigt hat: Ein Drittel ist ausgewandert, ein Drittel wurde umerzogen, ein Drittel von der Revolution erledigt.
Und weil ich aus der Mittelschicht stamme, ein Zögling dieser Schicht bin, ist es durchaus möglich, dass eines Tages diese Abrechnung, deren Zeit jetzt gekommen ist, auf kollektivem Wege auch mich erreicht. Aber eher soll auch ich dran glauben müssen, als dass diese sittenlose und ungebildete Sippschaft ihre Machtbastionen behält und weiterhin das Land infizieren kann.
Ich beobachte den großen Sturm in dieser kleinen Pfütze, in der ich jetzt lebe, dieses Bettlervolk, das wie die Zigeuner in allem, was geschieht, Konjunktur zu entdecken glaubt; ihre Führer, den Gemeindesekretär, den Pfarrer – und fast verzweifelt bemerke und erfahre ich, wie faul hier alles ist, wie dringend alles neu begonnen werden muss, wie wenig etwas anderes helfen kann als Erziehung.
Wer aber soll erziehen? Wer wird hier Lehrer zu wirklicher Demokratie erziehen, Lehrer, die in der Volksschule diesem Volk die Grundbegriffe menschlicher Moral beibringen? Die schwierige Kunst, die Wirklichkeit zu erkennen? Die höhere Tugend des Zusammenlebens? Zur Demokratie erziehen, so lautet die große Aufgabe; vorher aber müssen Lehrer herangezogen werden. Von wem und wie? Nichts hängt vom Gemeindesekretär, vom Pfarrer ab – alles hängt von uns ab, den ungarischen Lehrern. In ihren Seelen muss das Reinemachen beginnen; danach erst kann man weitere Überlegungen anstellen.
Heute habe ich die wenigen Bücher, die mir nach den Russen noch geblieben sind, geordnet. Während des Aufstellens hab ich an die Bücher gedacht, fünftausend Bände, die in meiner Budapester Wohnung geblieben sind. Von dieser Wohnung und von allem, das sie beherbergt hat – all meine Habe, all mein irdisches Gut ist dort geblieben, nur eine Garnitur Kleider und Unterwäsche konnten wir hierher ins Dorf mitnehmen! –, habe ich mich innerlich schon verabschiedet. Die heftigsten Kämpfe toben auch jetzt noch dort, in unmittelbarer Umgebung unserer Wohnung , auf der Vérmező, in der Burg, am Gellérthegy und in der Gegend des Naphegy. Es ist unwahrscheinlich, dass ich jemals auch nur ein einziges Stück von dem wiedersehe, was einmal mein gewesen war – und das war alles auf dieser Welt, was mir gehörte. Dieser Abschied fällt mir nicht leicht. Er mag aber doch einen Sinn haben, da wir, wenn wir schließlich gehen müssen, mit leichtem Gepäck aufbrechen können.
Ich habe an die Bücher gedacht, an fünftausend Bücher. Unter ihnen waren hundert, die mir im Leben am meisten gegeben, mir ein erhabenes Lebensgefühl geschenkt haben. Und wenn ich mir noch einmal eine »Bibliothek« einrichte, würden es dann hundert sein, die ich wirklich benötige? Hundert vielleicht schon … Die Bücher haben mir sehr viel gegeben, doch unter den vielen
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