Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
aus der Tabakfabrik in Óbuda erbeutet hatte. Was mir diese Zigaretten bedeuten, jetzt, da man mir meinen Tabakvorrat gestohlen hat, kann nur ein Raucher verstehen; so ist die Welt erst richtig rund, und ich danke dem Weltgeist ehrlich und aufrichtig, dass er so vollkommen für alles sorgt.
Ich spreche mit einer Diakonisse; sie ist gerade aus Budapest gekommen; die Deutschen werfen die Möbel aus den Fenstern der Wohnungen, auf diese Art errichten sie Straßensperren; der Mob, die Pfeilkreuzler plündern sich von Haus zu Haus, von Wohnung zu Wohnung. Alle hungern. Es gibt keine Fenster. Wasser aber gibt es hie und da schon.
Die Diakonisse leiht mir die Zeitung Szabadság . Ich lese sie vom ersten bis zum letzten Satz durch. Im Leitartikel »Vernichtungskrieg« steht, dass man nicht warten dürfe, bis die Besatzungsmacht mit den Nazis und Pfeilkreuzlern aufräumt; die Bevölkerung solle einen Vernichtungskrieg gegen die sich verkriechenden Pfeilkreuzler beginnen. Am oberen Blattrand der Zeitung stehen drei Namen, einer davon lautet Lajos Zilahy .
Heute habe ich – nach vielen Wochen das erste Mal – wieder zu lesen begonnen; ich lese den zweiten Band von Spengler. Kann mich nur schwer konzentrieren, weil im Nachbarzimmer viel Lärm ist; doch auch daran muss man sich gewöhnen, und vielleicht ist das gar nicht unmöglich.
Die Diakonisse erzählt, sie habe in Budapest auf der Straße eine vornehm gekleidete Frau gesehen, die sich verschämt umsah, dann schnell bückte und eine saure Paprikaschote, die ein russischer Soldat weggeworfen hatte, gierig aufhob und zu kauen begann.
Unsere Gäste sind – nach zwölf Tagen des Zusammenlebens – heute abgezogen. Nur einer von ihnen hat sich verabschiedet; es scheint, im Krieg ist es nicht Sitte, von den Hausleuten Abschied zu nehmen; doch der ältere Mechaniker kam vor der Abfahrt in unser Zimmer und sagte, er habe alles gesehen und beobachtet, wir seien Menschen, die »an Kultur gewöhnt sind«, und hätten in den letzten Tagen sicher viel gelitten. Wir beruhigten ihn, dass wir nicht »gelitten«, sondern nur eine ungewöhnliche Situation ertragen hätten, die vom Krieg verursacht worden sei, und für diesen Krieg trügen auch die Ungarn Verantwortung. Er sagte, die einzige Freude in seinem Leben seien Bücher; schrieb seine Adresse auf und auch die meine, denn er wollte uns informieren, ob etwas von unserer Budapester Wohnung übrig geblieben sei. Er sagte, wenn er fremde Sprachen sprechen könnte, bliebe er gern bei uns; aber er sei nicht mehr jung, und seine Tochter sei Ärztin. Zum Abschied gab er mir Stalins Porträt in einem dünnen Goldrahmen zur Erinnerung. Er selbst sei kein Kommunist.
Die anderen sind ohne Abschied gegangen. Jetzt, da sie fort sind, denke ich mit freundschaftlichen Gefühlen an sie. Sie können für das alles nichts, der gleiche Sturm wirbelt uns alle umher.
Das Haus und der Garten erscheinen wie eine Mischung aus Schlachtfeld und Schlachthof, direkt nach einem Gefecht und einer Großschlachtung. Hier liegt ein ausgeweideter Dieselmotor, dort liegen die Därme eines frisch geschlachteten Ochsen; auf dem Esstisch ein großer Haufen Hühnerknochen, die Wände sind grauschwarz; der Boden sieht aus wie eine schlammige Landstraße nach drei Tagen Herbstregen; mithilfe eines Hobels bringt man vielleicht die alte, saubere Farbe wieder ans Licht. Den Zaun und das Tor wieder aufzustellen lohnt sich wohl nicht, ohnehin kommt jeder, der will, ins Haus herein.
Wir schrubben und putzen, und wenn wir damit fertig sind, lese ich bei Spengler weiter, schreibe dieses Tagebuch, vielleicht auch etwas anderes – warum? Darauf habe ich keine Antwort.
Und immer noch interessiert mich Julien Greens neuer Roman mehr als dieser Krieg.
Ich denke an diese zwölf Tage und Nächte zurück und sehe eigenartige Bilder. Ich trete am Abend ins Wohnzimmer, wo eine Lampe ohne Glassturz qualmt, das Grammofon spielt, auf dem Boden Männer in Lederjoppen, einer von ihnen liegt auf dem Rücken und hat die bloßen Füße nach oben, in Richtung Ofen gestreckt … Was ist das für ein Bild? So ein »menschliches, russisches« wie in einem Roman von Gorki? Nein, es ist anders, realer, und die Wirklichkeit ist stets einfacher.
L. hat sich in diesen Tage wunderbar verhalten; mutig, überlegen, praktisch; die absonderlichen Gäste haben sie alle liebgewonnen und mir auf die Schulter klopfend versichert, L. sei eine gute schena , und sie gratulierten mir.
Der Mechaniker meinte
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