Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
beim Abschied ganz ernst: »Nur der ist ein wirklich begabter Mensch, der diesen Krieg überlebt.«
Endlich habe ich die Möglichkeit, aus diesen Tagen einen wirklich historischen Satz aufzuschreiben.
Die Bauern erschraken vor den spontanen und zur Gewohnheit gewordenen Requirierungen der Russen, schlachteten und verkauften ihre Rinder lieber; und zum ersten Mal nach langer Zeit ging die Nachricht um, dass der Dorfmetzger Fleisch verkaufe. Ich ging zu ihm und ersuchte ihn, er möge mir ein Stück Filet geben. Da sagte er streng: »Ich kann Ihnen, bitte schön, nichts geben, weil das Filet schon für den Herrn Oberrichter reserviert ist.«
Dieser Satz erklang am 2. Februar 1945, vier Wochen, nachdem die Russen Leányfalu besetzt hatten. Ein vollkommener Satz. In ihm stecken alle Erfahrungen eines Dienervolks; und auch, dass es in Ungarn noch Jahrhunderte dauern wird, bis der Metzger und der Oberrichter verstehen, dass durch solche Sätze eine Nation zugrunde gegangen ist. Und wahrscheinlich wird der Oberrichter diese Wahrheit früher als der Metzger verstanden haben.
Der Mechaniker, mit dem ich beim Abschied Adressen austauschte, hat noch viel Interessantes über die Zustände bei sich daheim erzählt. Sein Vater war Demokrat gewesen und plötzlich gestorben. Vielleicht kommt einmal die Zeit, in der ich – unter friedlicheren Umständen – all das aufzeichnen kann, was ich von diesem außergewöhnlich gescheiten Menschen gehört habe.
Der Mittelstand, diese Judenfresser und Nazifreunde, versucht jetzt, für alles, was geschehen ist, den Pfeilkreuzlern die Verantwortung zuzuschieben. Menschen, die mit jeder Faser ihres Körpers auf die Deutschen und die ungarischen Nazis hofften, betonen bei Unterhaltungen immer häufiger, jawohl, die Pfeilkreuzler seien an allem schuld. Das stimmt nicht, denn die Pfeilkreuzler sind nicht die Haupttäter. Die Pfeilkreuzler sind nur eine Folge all dessen, was diese Gesellschaft in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren begangen hat, um sich ohne Bildung, Moral und Begabung Geltung zu verschaffen. Die Pfeilkreuzler-Horden sind ebenso schuldig wie die ungarische Führungsschicht, die unter dem Deckmantel der Verfassungsmäßigkeit in den fünfundzwanzig Jahren Horthys jede Art von Reaktion schamlos genährt und gefördert hat. Diese Gesellschaft wird ihre Verantwortung nicht so einfach von sich abwälzen können. Jetzt werfen sie die Pfeilkreuzler den Siegern wie die Knochen den Hunden hin, um ihre Haut zu retten. Aber so billig werden sie nicht davonkommen.
Und noch immer schimpfen sie auf die Juden, in den eigenen vier Wänden; sie sind glücklich, wenn ein russischer Offizier mit den Schultern zuckt und sagt, die Russen seien keine Antisemiten, aber auch keine Philosemiten; bei ihnen kenne man die Rassenfrage einfach nicht; sie sind glücklich, wenn sie unter den russischen Offizieren einen Juden entdecken und sich bestätigt fühlen, sieh mal an, die Propaganda hatte recht, die russische Armee ist »verjudet«; sie sind glücklich, wenn sie jemanden mit der Aussage »in seinen Adern fließt jüdisches Blut« brandmarken können, wie gestern ein ungarischer Nazifreund, der vor ein paar Wochen noch die durchziehenden Gestapo-Offiziere zum Abendessen eingeladen hat, über einen berühmten Ungarn sagte, der sich aber im Moment der Besetzung erschrocken den Bart hat stehen lassen und jetzt der russischen GPU die hiesigen Pfeilkreuzler ausliefert, um seine eigene Haut zu retten, denn er war doch »kein Parteimitglied« … Nicht nur jene sind schuldig, die Parteimitglieder waren; sie sind vielleicht weniger schuldig, weil sie sich zumindest zu einer Idee bekannten. Schuldig ist die ganze Clique, die in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren nichts unversucht gelassen hat, um sich ohne Begabung und Charakter bereichern zu können, und deshalb hat sie Hitlers Wahnidee Vorschub geleistet; manchmal in aller Öffentlichkeit, im Geheimen aber immer und überall.
Der Grundbegriff von Privatbesitz hat sich heute in den Köpfen der Menschen zweifelsohne gelockert; keiner weiß, was der nächste Tag bringt, was in welchem Maße und wie lange einem gehört; deshalb sind alle bemüht, die Dinge des täglichen Bedarfs dort und auf eine Weise zu organisieren, wo und wie sie sie erhaschen können. So ist mit vorsichtigen Worten eine Situation umschrieben, die praktisch bedeutet, dass jeder überall dort und auf eine Weise stiehlt, wo und wie es ihm möglich ist. Alles wird gestohlen: Möbel und
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