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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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»entlastet« – von wem? –, und seine Möbel kamen »unter Verschluss«, weil er »Pfeilkreuzler« ist; in Wirklichkeit war er Redakteur einer katholischen Zeitung; Y. wurde verhaftet, weil er zu dieser und jener Zeit einen Artikel geschrieben hat, in dem … und so weiter. Dieses Hasenjagd-Spiel wird, sobald die Russen abgezogen sind, Alltag sein. Die Russen haben sich nicht mit den lokalen Faschisten abgegeben und wollten auch keine künstlichen Märtyrer schaffen.
    Anschuldigungen, Qualifizierungen, Verhaftungen machen natürlich vor keiner Person halt; ich wundere mich nicht, wenn sie eines Tages auch an meine Tür klopfen. Mit Geduld erwarte ich sie. Wer sind diese Femerichter? Wenn man sie, ihre Vergangenheit, wirklich überprüfen würde, müssten sie sich allesamt für einige Zeit mit auf die Anklagebank setzen. Die Wahrheit ist, dass in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren alle, die hier lebten und überhaupt lebten, sich auf irgendeine Art kompromittiert haben … Der eine dadurch, dass er etwas tat, was er nicht hätte tun müssen, der andere, dass er etwas nicht tat, was er hätte tun sollen. Wer nicht selbst sündigte, hat die Sünde doch geduldet. Die Verantwortung ist graduell, aber sie ist kollektiv. Es hat keinen Wert, darüber zu reden. Man muss das alles ertragen, heiter und mit Gleichmut.
    Der Frühling ist da. Es gibt nicht nur Weltkrieg mit Deutschen, Russen, Briten. Wir haben auch Stechmücken und Wespen. Und im Augenblick stören sie mehr als die Deutschen, Russen und Briten.
    S. erzählt: In der Zille, mit der man jetzt über die Donau kommt, finden nur sechs Leute Platz, aber es haben schon acht darin gesessen. Da kommt ein Russe mit Schaffellmütze, einem Koppel und einem Bündel auf der Schulter. Er ruft » dawai! dawai! « , jagt die zwei Passagiere, die überzählig sind, aus dem Boot und macht sich an ihrer Stelle breit. Der Fährmann meint, es wären immer noch zu viele. Der Russe sitzt gleichgültig da. Ein Dolmetscher beginnt ihm zu erklären, doch der Russe antwortet ihm nicht, stur brummt er die Leute mit seinem »dawai, dawai« an. »Wahrscheinlich ist der gar kein Russe«, sagt irgendeiner im Boot schließlich zögernd. Sie fallen über ihn her, und es stellt sich heraus, dass der vermeintliche Russe tatsächlich kein Russe ist: ein geriebener Kerl aus Budapest, der sich als Russe verkleidet hat. »Ich bin kein Russe«, gibt er schließlich selbstbewusst auf Ungarisch zu, »aber auch kein Pfeilkreuzler.« Er wird aus dem Boot gejagt und sucht fluchend das Weite.
    S. war in Debrecen, doch schaffte er es nicht, beim Ministerpräsidenten und auch nicht beim Fachminister vorzusprechen. Unter den Mitgliedern der englischen Mission befanden sich Bekannte von ihm; sie wohnen in den Gebäuden der Nagyerdő -Klinik, in ziemlicher Einsamkeit und isoliert. Es empfiehlt sich nicht, ihre Gesellschaft zu suchen. Sie haben ihn zum Mittagessen eingeladen – S. war jahrzehntelang der Flügeladjutant von Admiral Horthy, in der Mission dienen auch Mitglieder der Marine –, man konnte ihm aber nur Bier anbieten; an Wein und Schnaps kommen die Engländer nicht. Die Lage der amerikanischen Mission ist angenehmer.
    Die Engländer urteilten streng über den Reichsverweser, die Kapitulation im Oktober ist für sie kein mildernder Umstand; das ist sie tatsächlich nicht. Sie wissen nichts über die Zukunft Ungarns oder wollen nicht darüber reden.
    Diese Ungeduld, die mich von Zeit zu Zeit ergreift; etwas tun, so gut es geht, mein Leben »ordnen«. In so einem Fall ist Disziplin eine große Tugend. Mit dem »Ordnen« nichts übereilen, warten, bis das Leben wirklich die Möglichkeit bietet, dies oder jenes zu richten. Alles »kommt in Ordnung«, wenn wir den entsprechenden Augenblick abwarten … aber dieses Zuwarten ist eine der schwierigsten Aufgaben überhaupt.
    Das wilde Hallo! in der Presse, wenn wieder jemand verhaftet worden ist … Sie sollen alle verhaften und bestrafen, die es verdienen; sich aber hüten, solche Trophäen zu feiern. Dieses laute Halali-Geschrei weckt widerwärtigen Ekel in dem, der gezwungen ist, ganze Tage zu schweigen.
    Jetzt, da ich wieder begonnen habe zu arbeiten, schreibe ich jede Woche ein, zwei kurze Skizzen für das Büchlein Schwäne, Rosen, Heilige ; wie ich früher für meine Zeitungen Artikel, Feuilletons, Skizzen, kurze Texte geschrieben habe. Wie alles andere, schreibe ich auch diese Texte für die Schublade, dennoch habe ich gemerkt: Ich arbeite auch für

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