Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
die Schublade wie jemand, der seine tägliche Arbeit tut, seinen vertraglichen Verpflichtungen nachkommt. Schließlich muss man auch von etwas leben.
Friede in Szentendre. Offene Geschäfte, in denen man wieder »alles bekommt«, kaum teurer als in Budapest. Innerhalb einer halben Stunde kaufe ich folgende seit Monaten nicht gesehene Artikel: dreihundert Gramm köstlichen Presssack, ebenso viel Wurst und Speck, ein halbes Kilo Margarine, ein Viertel Kilo Kristallzucker, einen halben Liter Speiseöl, Hefe, Backpulver, Natron, einen Viertel Liter hervorragenden Aprikosenschnaps … und ich zahle rund sechshundert Pengő. Seit einem Jahr habe ich kein Einkommen, und sehr oft könnte ich Ausflüge wie diesen nicht wiederholen; doch ich werde von einem richtigen Kaufrausch erfasst, weil ich endlich die Möglichkeit habe, zu wählen, mit einem höflichen Kaufmann zu reden, der mir zuvorkommend, zu einem fixen Preis – wie gepfeffert dieser auch ist – seine Ware anbietet, und weil ich nicht bei duckmäuserischen Bauern für Maismehl meine Unterhosen eintauschen muss … »Ist der Presssack auch ausreichend geräuchert?«, frage ich den Kaufmann mit Kennermiene. Er antwortet mir, sich leicht verbeugend: »Bitte sehr, vielleicht möchte der Herr eine kleine Kostprobe nehmen, wir führen nur erstklassige Ware.« Und zum Abschied: »Schauen Sie doch bitte wieder einmal bei uns vorbei, wir sind gern zu Ihren Diensten.« Bekannte, vergessene Klänge. Das ist schon der Frieden.
Der Aprikosenschnaps ist ein großes Erlebnis und Wiedersehen … und schließlich schmeckt er gar nicht besonders. Man kann alles vergessen, auch seine Leidenschaften.
Ein Wintermärchen , wiederum die unübertreffliche Übersetzung Schlegels, in der zweisprachigen Ausgabe. Ich habe bisher noch von keinen so hervorragenden Meistern der Sprache Englischstunden bekommen.
Der schmale Donauarm hier vor der Landstraße hat dieses Ufer vor dem Krieg bewahrt; und jetzt, da es keine Brücke gibt und das Überqueren der Donau auch sonst umständlich ist, schützt er vor den Nachrichten aus Budapest und überflüssigen Besuchern. Diese »Isoliertheit«, das Wasser, ist wahrlich ein großer Schutz, selbst heute, in der Zeit der Fliegerei. Die Britischen Inseln wurden durchs Wasser gerettet, und ebendieses hat uns – in kleinerem Maßstab – im letzten Jahr vor allerlei Gefahren geschützt. Wasser ist ein ewiger Schutz, es kümmert sich nicht um die Erfindungen der Zeit.
Der Garten ist jetzt wie ein japanisches Fest.
Geburtstag. Zum Frühstück wird mir ein phantastischer Tisch gedeckt: Milchkaffee, französische Gänseleber, Brioche mit Rosinen, Hefebrot, ein großes Stück Schokolade in Friedensqualität, ein Viertel Kilo Butter, weiche Eier, eine Flasche Nussschnaps … Als würde ich eine Geschichte aus 1001 Nacht lesen, zum Frühstück. Und natürlich Würfelzucker. All das hat L. von einer alten, dicken Gärtnersfrau aus dem Nachbardorf bekommen, für insgesamt hundertzwanzig Pengő in Papiergeld. Die Gärtnersfrau lernte sie in der Schnellbahn kennen. Die alte Frau hat meine Werke gelesen, und als sie erfuhr, welches Fest in unserem Hause anstand, bot sie ihre Schätze an. Und all das jetzt, da man von den Bauern nicht ein einziges Ei bekommen kann. Der Wert dieses Geschenks beträgt ungefähr dreitausend Pengő; allein der Liter Nussschnaps würde sechshundert kosten. In diesem unwirklichen Überfluss steckt etwas, das mich fassungslos macht; es ist mir unmöglich, nicht den besonderen Segen, die Großzügigkeit einer höheren Hand darin zu erblicken.
Ich bin jetzt fünfundvierzig Jahre alt. Mein Gesundheits zustand ist erträglich. Unter gnädigen Voraussetzungen und Umständen habe ich große Gefahren überstanden. Wahrscheinlich stehen mir weitere Gefahren bevor. Aber ich lebe und arbeite, mit aufrichtigerer Hingabe als jemals zuvor. Mehr kann ich mir nicht wünschen.
Was habe ich in fünfundvierzig Jahren gelernt? Es gibt eine Vorsehung. Es gibt aber auch Aufgaben, die man nicht der Vorsehung überlassen kann; die müssen unerbittlich verrichtet werden, allein.
Den Menschen vertraue ich nicht. Sie sind unfähig, sich weiterzuentwickeln. Ab und zu gibt es einen Menschen, in dem göttliche Kräfte wirken … das ist aber auch schon alles.
Ich kenne mich selbst schon leidlich. Beginne, meine Art des Funktionierens zu verstehen wie einen Mechanismus.
Was war die größte Enttäuschung in diesen fünfundvierzig Jahren? Die ungarische
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