Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Gesellschaft, die Sittenlosigkeit des ungarischen Volkes.
Mein größter Schmerz: der Tod des kleinen Kindes. (Nicht sofort; später, Jahre später.) Meine größte Freude? So etwas hat es nicht gegeben. Das Leben war gut, wunderbar, überraschend, das ganze Leben. Zusammen mit dem, was schrecklich war.
Die Mitglieder der englischen Mission haben sich bei S. erkundigt, was jetzt all jene Menschen in Ungarn machen, die von ihnen decent people genannt werden. S. hat die Achseln gezuckt, er konnte nicht antworten.
In Wirklichkeit gibt es von diesen Menschen nicht viele. In Ungarn gibt es gar keine decent people . Wer anständig ist, schweigt, steht beiseite, wartet auf irgendetwas; oder wartet vielleicht gar nicht. Kratzt sich am Kopf, macht »hm«. Der Beschränktere ist beleidigt, der Klügere hat sich abgefunden, der Talentierte zuckt die Achseln und bemüht sich zu überleben.
Eine überraschende Eigenschaft unserer Gäste ist ihr Hang zum Snobismus. Sie schätzen den gut gekleideten, sich entsprechend den gesellschaftlichen Normen benehmenden, in Manieren und Auftritt »gentlemanlike« agierenden Menschen mehr als den Zerlumpten, Heruntergekommenen mit schlechten Manieren. Auch verfolgen sie bewusst die Burschuis ; als vermuteten sie, was ich schon lange weiß: Der Burschui ist kein Gentleman.
Auch stimmt nicht, dass die Russen »mit der Todesverachtung der Menschen aus dem Osten kämpfen«, weiterhin, dass »der einzelne Mensch nichts zählt« und so weiter. Ihre Kriegsführung ist hervorragend, und es stimmt überhaupt nicht, dass sie ihre Erfolge mit unnötigen Menschenopfern erreichen. Ich habe eher die Erfahrung gemacht, dass sie mit größtmöglicher Vorsicht kämpfen, die Todesgefahr meiden, so weit das im Krieg möglich ist, und dass der »östliche Mensch« auf keinen Fall mit fatalistischer Gleichgültigkeit in den Tod geht. Bei der Belagerung von Buda zum Beispiel hatten sie auffallend geringe tödliche Verluste.
Im Dorf ist die Wachablöse geschehen: Der alte Dorfvorstand wurde seiner Ämter enthoben – der Gemeindesekretär ist innerhalb weniger Monate reich geworden, er hat vier Paar Pferde –, an seine Stelle traten Kommunisten und Sozialisten. Ein großer Moment im Leben dieses Volkes, es hat die Macht übernommen: Ein Kapitel des tausendjährigen Streits ist somit abgeschlossen.
Den neuen Inhabern der Macht ist die Unsicherheit anzumerken: Sie haben weder Praxis noch Bildung. Sie spüren, dass einen das »Links«-Sein aus Überzeugung noch zu nichts befähigt. Das Volk ahnt schon, dass der Sinn des Kommunismus etwas ganz anderes ist, als man vor ein paar Monaten noch vermutet hatte. Es heißt nicht, dass sie den Herren Haus und Besitz wegnehmen und dann sie selbst die Herren sind, sondern dass Herr und Bettler die Arbeiter in irgendeiner großen, ständigen Arbeitsgemeinschaft sein werden und hart arbeiten müssen … Deshalb sind ihre Seelen von Unsicherheit, Zurückhaltung und Verstörtheit erfüllt – trotz des zugeteilten Ackerlands und der Machtübernahme.
Zu meiner Erinnerung blättere ich in Aladár Kuncz’ Roman Das schwarze Kloster , und er macht mich ganz aktuell darauf aufmerksam, dass es keine »Entwicklung« gibt, das Menschenmaterial stets das Gleiche bleibt und auch im Höllenfeuer zweier Weltkriege aus diesem Material keine edlere Legierung entstanden ist, es nicht zu etwas Edlerem gehärtet wurde: Es blieb genauso gnadenlos, menschenfeindlich, hirnlos, ungeduldig, tollwütig-dumm wie zuvor. Die Franzosen haben in diesem Krieg die gleichen Fehler begangen; keiner hat gelernt. Vielleicht haben nur wir, die Ungarn, uns selbst besser kennengelernt, die unermesslichen Dimensionen unseres moralischen Niedergangs erfahren. Als hätten wir uns bisher nicht wirklich gekannt.
Doch auch die Selbsterkenntnis hilft nicht. Nichts hilft. Die Menschen steigen in die Hölle hinab, spazieren durch alle Höfe dieser Institution, kehren auf die Erde zurück und sagen das Gleiche, tun das Gleiche, sind dieselben geblieben wie vorher. Es gibt keine Katharsis. Es gibt kein »reinigendes Erlebnis«. Es gibt nichts, das die menschliche Natur verändern würde. Sie haben Budas Belagerung mitgemacht, die Schreckensherrschaft der Pfeilkreuzler, all das, was ihr folgte, und sie meinten: »Also, was es nicht alles gibt!« Und dann, übergangslos: »Was sagen Sie dazu, dass jetzt gleichzeitig Geldmangel und Inflation herrschen? So was hat es noch nicht gegeben!«
In meinem Leben gibt es eine
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