Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Engländer eines Tages in Budapest einrücken und der christlichen Mittelschicht die in den letzen Monaten verlorenen Positionen zurückgeben … Und ich fürchte, die Leser dieser Zeitung werden auch jetzt ebenso überrascht sein wie in der Vergangenheit, nur auf einer anderen Ebene; statt der Russen kommen keine großzügigen Engländer mit Wiedergutmachung verheißenden Palmwedeln. Und die Russen verlieren diesen Frieden nicht. Und die Leser dieses Blattes werden wiederum enttäuscht sein und die Wahrheit erst viel später erfahren: weil sie nicht willens sind, etwas über die Wirklichkeit zu lesen, sondern nur über ihre Wünsche und Sehnsüchte.
Und trotzdem, in diesen Zeitungen muss man – dann und wann – die Stimme erheben, in diesen Zeitungen der bürgerlichen Front: Denn nur sie muss überzeugt werden, sie muss, wenn möglich, erzogen, ihr muss gesagt werden, dass sie sich täuscht, sich irrt, dass sie verantwortlich ist! Nur hier kommt man den Bürgern nahe, weil sie wie der Vogel Strauß nicht willens sind, sich mit erhobenem Kopf in der wirklichen Welt umzuschauen. Und Realität ist, dass die Russen den Frieden nicht verlieren werden, sie bleiben unsere Nachbarn, eine kontinentale Großmacht, in den kommenden hundert Jahren müssen wir mit ihnen rechnen. Und das ist, über alle Klasseninteressen hinweg – jenseits der rechten und linken Klasseninteressen –, eine Wirklichkeit, die eines Tages sogar die nun aktuellen Leser von Magyar Nemzet zu erkennen genötigt sind.
Tiefe Müdigkeit. Am liebsten würde ich tagelang schlafen. Vitaminmangel, Wetter oder Missmut, ein Abnehmen der Lebensreserven … Wir wissen noch nicht, was mit uns passiert ist, wie sehr wir in den letzten Monaten unsere Reserven aufgebraucht haben, wie sehr wir vom Eingemachten leben und wie schnell die Vorräte zu Ende gehen … Jetzt ist man in einem Zustand, in dem man auch ohne Krankheit sterben kann, jeden Augenblick; es gibt keinen wirklichen inneren Halt mehr, also auch keinen wirklichen Hang zum Leben.
Als die Russen Budapest bereits von Vecsés aus beschossen, erschien in der Redaktion der Kinderzeitung Az én újságom ein Oberleutnant der Pfeilkreuzler, drohte und gab dann flüsternd bekannt, dass er für »monatlich zweitausend« bereit sei, die Kinderzeitung vor dem Terror der Pfeilkreuzler zu retten … Diese monatlichen Zweitausend, die der Ganove in Pfeilkreuzler-Uniform zwischen zwei Explosionen russischer Granaten flüsternd aussprach, sind in ihrer Naivität schon fast rührend.
Im vergangenen Vierteljahrhundert war der Vitéz-Orden der einzige ungarische Selektionsversuch: ein Versuch, aus allen Schichten der Gesellschaft die Herausragenden auszuwählen und aus ihnen eine Art Elite zu formen. Die Bedingung für die Qualifikation war das Verhalten des ausgewählten Individuums im Krieg. Zweifellos ist auch das eine Form der Qualifikation: Im Krieg kann nur die bessere Art Mensch ihren Mann stehen.
Im Frieden gibt es eine andere »bessere Art« Mensch, den Gebildeten, für lange Zeit; darüber spricht die ungarische Gesellschaft jedoch nicht gern, denn gebildet ist man nicht nur bei einer bestimmten Gelegenheit, sondern immer, und das bedarf lebenslanger Anstrengung. Es blieb also die Würdigung kriegerischer Verdienste. Gewiss ist auch diese schätzenswert. Was aber ist in Wirklichkeit geschehen? Der Titel Vitéz verlor innerhalb sehr kurzer Zeit seinen tatsächlichen Wert; er war ein privilegierter Vorwand, nach oben zu kommen, nichts sonst. Der Polier, der mit dem Vitéz-Titel vor seinem Namen um Arbeitsdienstler ansuchte, schrieb mit seinem Schreibblei forscher und dicker, weil er wusste, dass sein Vitéz-Status ihn dazu berechtigte; wenn der gebildetere Teil des Publikums neben dem Wörtchen »Dr.« auch noch das Wörtchen »Vitéz« las, ging er instinktiv weiter, suchte sich einen anderen Arzt, der nicht Vitéz war, weil er den berechtigten Verdacht hegte, dass jemand, der Vitéz ist, an der Universität nicht so fleißig gelernt hatte, da er – durch seinen Vitéz-Titel oder seinen geerbten Vitéz-Titel! – bei den Prüfungen leichter durchkam und man ihm deshalb die kranke Niere oder Lunge besser nicht anvertraute. So sah es mit dem Kurs des Vitéz-Titels in der Praxis aus; er war der einzige Selektionsversuch in den letzten fünfundzwanzig Jahren und endete mit dem Skandal um die Vitéz-Grundstücke, geraubter und dann untereinander aufgeteilter jüdischer Grundstücke; darüber sprach jedoch
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