Unzertrennlich
Gäste. Christines Eltern hatten gern viele Gäste, die wiederum viel tranken und dabei gern mehrere Gläser benutzten. Nach jedem Geburtstag hatte Christine schrumpelige Finger.
Draußen im Garten ließ sich Christines Vater feiern. Er saß mit seinem Geburtstagsgesicht inmitten von zehn gleichaltrigen Männern, die – vom Bier beflügelt – sich ungehemmt in die Vergabe der Bundesligarechte einmischten und über die falsche Gemeindepolitik schimpften. Ein paar Meter weiter standen die Tische und Stühle im Schatten, dort saßen die Ehefrauen, die laut über das neue Enkelkind von Agnes redeten, über Blaukorn unter Hortensien, über den unmöglichen neuen Mann von Gundulas Tochter und darüber, dass Helma immer Fertigkuchen zum Roten-Kreuz-Basar mitbrachte.
Als Christine mit sauberen Gläsern auf dem Tablett zu ihnen an den Tisch kam, musste sie gleichzeitig die Fragen nach ihrer Wohnung, ihrem Exmann und der Farbe ihres Lippenstifts beantworten.
»Nun setz dich doch mal zu uns, Christine. Charlotte, deine Tochter spült sich noch einen Wolf.«
»Ach, Charlotte hat doch sowieso nur Kinder gekriegt, damit sie genügend Personal für ihre Feiern hat.«
Agnes und Renate klatschten sich vor Vergnügen auf die Schenkel. Die Stimmung war bereits so ausgelassen, dass Christine Schwierigkeiten hatte, alle Pointen mitzubekommen. Vermutlich gab es schon gar keine mehr und es wurde einfach nur so gelacht.
Nach zehn Minuten fühlte sich Christine von dieser lärmenden Weiblichkeit erschöpft. Sie sehnte sich danach, in Ruhe eine Zigarette zu rauchen, ein Glas Rotwein zu trinken und aufs Wasser zu blicken. Unauffällig sah sie auf ihre Armbanduhr, 17.30Uhr, in einer halben Stunde würde Ines kommen. Ihre kleine Schwester konnte auch mal eine Runde Gläser spülen.
Christine stand auf und beugte sich zu ihrer Mutter. »Du, ich gehe mal eine Runde zum Hafen, ist das o. k.? In der Küche steht nichts mehr und der Backofen ist an. Das Fleisch braucht noch zwei Stunden, bis dahin bin ich wieder da.«
Charlotte tätschelte Christines Hüfte. »Na, dann verschwinde. Das heißt, willst du nicht auf Ines warten? Sie kommt doch gleich.«
»Das dauert noch mindestens eine halbe Stunde, dann muss sie gratulieren, Sekt trinken, alle küssen, so lange will ich nicht warten. Ich bin bei Gosch, sie kann ja nachkommen.«
Charlotte lachte schon über den nächsten Satz von Agnes, während Christine mit ihrem besten Ich-hole-nur-schnell-Gläser-Lächeln zurück zum Haus ging. Keiner merkte, dass sie über den Gartenzaun stieg.
Erleichtert lief Christine in Richtung Sommerdeich, dabei zündete sie sich eine Zigarette an. Sie rauchte sonst nie auf der Straße, Sylt war die Ausnahme. Wie oft hatten sie und ihre Cousine Sanne behauptet, spazieren gehen zu wollen, nur um auf dem Sommerdeich zu rauchen. Anschließend kauten sie Kaugummis, damit sie nicht aufflogen. Bis eines Tages Onkel Paul die Antenne auf dem Dach richtete, von wo aus er die beiden rauchenden Dreizehnjährigen auf dem Deich sehen konnte. Er hatte ohnehin nie geglaubt, dass Mädchen in dem Alter spazieren gehen. Der nachfolgende Ärger war heftig, Sanne und sie rauchten die darauffolgenden Jahre kaum.
Christine dachte darüber nach, dass beide noch heute, mit über 40, nach dem Familienessen zu Weihnachten ein fröhliches »Wir gehen mal eine Runde spazieren« in den Raum warfen. Ihre Väter schüttelten traurig die Köpfe, ihre Mütter zogen die Augenbrauen hoch. Sanne und sie kauten anschließend immer noch Kaugummi.
Christine drückte die Zigarettenkippe im Sand aus und wickelte sie dann in ein Tempotaschentuch. Früher hatten sie das getan, um keine Spuren zu hinterlassen, heute schonten sie die Insel, irgendwie waren sie doch erwachsen geworden.
Der Parkplatz am Hafen war jetzt, Ende August, nicht mehr so knallvoll wie im Hochsommer. Die Fähre aus Dänemark hatte gerade angelegt und es herrschte diese gutgelaunte Urlaubsatmosphäre, die Christine an der Insel so mochte. Sie bestellte sich ein Glas Rotwein an einer der Bars und nahm es mit zu einer Bank, von der aus sie über das Wasser sehen konnte.
Als sie schließlich saß, atmete Christine tief aus und prostete dem Meer zu. Die Abendsonne glitzerte auf dem Wasser, der Moment war perfekt. Sie war seit ihrem Urlaub im Juni nicht mehr hier gewesen. Seit dem Sylt-Wochenende mit Richard. Die offizielle Erklärung war, dass sie an den Wochenenden die Kolumnen schreiben musste und das am besten zu Hause ging. In
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