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Titel: Upload Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cory Doctorow
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noch nach Chlor, Sandelholz-Massageöl und der Hautcreme mit Melonenduft, die in den extravaganten Toiletten angeboten wurde. Während er zur Haltestelle des Pendelbusses schlenderte, fiel die Spannung nach und nach von ihm ab. Die Luft hatte ein un-211
    bestimmtes heimatliches Flair; vielleicht lag es aber auch am Sonnenlicht, dass er sich hier sofort wie auf vertrautem Territorium vorkam. Die Ama-teuranthropologen der Stämme diskutierten un-tereinander gern über das Licht und behaupteten, die Wirkungen der Sonne variierten von Breitengrad zu Breitengrad, abhängig von den jeweiligen Emissionen der Regionen oder Städte, die die Strahlen filterten.
    Ob es nun am Licht lag oder an der Luft, am Breitengrad oder am Smog: Jedenfalls fühlte er sich hier zu Hause. Beruhigend selbstsicher be-wegten sich die Frauen auf ihren hohen Absätzen über das harte Pflaster ( klack-klack-klack ); lauter als unbedingt nötig sprachen die Männer miteinander oder in ihre Komsets. Die Leute waren ein wildes Völkergemisch, und ihre Äußerungen sum-mierten sich zu einem entfesselten Babel aus Akzenten, Dialekten und Sprachen. Aggressive Brezelverkäufer wetteiferten mit aggressiven Schnorrern um das Kleingeld der Leute, die auf den Pendelbus warteten. Art kaufte eine altbacke-ne, dampfende Brezel, die mit einer ungenießbar dicken Kruste aus vergilbtem Salz umhüllt war, und warf ein paar Dollar einem Bettler zu, der ihn mit stark jamaikanischem Zungenschlag belästigt hatte, sich jedoch in näselndem Brooklyner Dialekt bedankte.
    Als er in der Anschlussmaschine nach Logan 212
    Platz genommen hatte, zitterten seine Knie un-kontrolliert, denn er konnte seine Freude kaum bändigen. Er bekam eine Dose mit widerlich wäss-rigem Budweiser, stellte sie neben die ungenieß-
    bare Brezel auf sein Tablett am Sitz und arrangier-te beides zu einer Art Stillleben all der Dinge, die dem Stamm der Östlichen Zeitzone lieb und teuer waren.
    Später rief er Fede aus einem der vielen Tunnel an, die Boston wie mit einem Wabenmuster über-ziehen. Als Fede abhob, wurde ihm mit einem prickelnden Gefühl klar, dass es in London, nach der nominellen MGZ+0, schon zwei Uhr morgens war, hier dagegen, bei MGZ-5 – am temporären Nullpunkt, in der Standard-Zeitzone seines persönlichen Lebens, Lebensunterhalts und Lebens-stils – erst neun Uhr abends.
    »Fede!«
    »He, Art!«, erwiderte Fede mit der vorgetäuschten Munterkeit, die Art nur zu gut aus eigener Erfahrung kannte, denn unzählige Male hatte er selbst so auf Anrufe mitten in der Nacht reagiert.
    Er hatte sich einmal ein billiges malaysisches Komset zugelegt, das wegen seiner Standby-Funktion angepriesen wurde. Es konnte nämlich aus den tiefsten Tiefen des Energiesparmodus in die strahlenden Höhen der Aktivität hochfahren, ohne die obligatorische, dreißig Sekunden lange Inventurroutine zu durchlaufen, die die Festplatte rat-213
    tern ließ. Während der Routine bauten die üblichen Komsets die Netzwerkverbindung wieder auf, überprüften das Dateisystem und den Ar-beitsspeicher und pingten die Empfänger auf der Freundesliste nach Status- und Positionsinforma-tionen an. Doch dieses malaysische Komset, Kracher genannt, hatte die unheimliche Fähigkeit, für unbestimmte Zeit ins digitale Koma zu fallen und trotzdem in Bruchteilen von Sekunden die Arbeitsumgebung wieder aufs Display zu bringen.
    Als Art das Gerät endlich in die Finger bekam, nachdem es per Schiff, korrupten MGZ+8-Post-und Telegrafenämtern, Kurierdiensten mit logisti-schem Overkill und den Zolleintreibern der kana-dischen Finanzbehörden eine Irrfahrt um die halbe Welt hinter sich hatte, war er von dieser Funktion fasziniert. Er konnte das Gerät in den Standby-Modus versetzen, den Deckel zuklappen, und wenn er den Deckel wieder öffnete, zack! , waren all seine Fenster wieder da. Er brauchte drei Tage und einen interessanten Systemcrash, bis er dahinterkam, dass er seine Arbeitsumgebung zwar sofort sehen, aber dreißig Sekunden lang nicht mit ihr interagieren konnte. Der System-absturz machte ihn – Glück im Unglück – darauf aufmerksam, dass die Festplatte vor dem Übergang in den Standby-Modus einen Screenshot der Arbeitsumgebung speicherte. So wurde ihm klar, dass das Gerät ihn mit dem Display des Screen-214
    shot täuschte, nur so tat, als wäre es betriebsbe-reit, wenn er es aktivierte, und zwar so lange, wie es im Hintergrund für die Inventurroutine brauchte. Mit Hilfe einer Stoppuhr stellte er fest, dass sich die

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