Urban Gothic (German Edition)
und obwohl er feststellte, dass es tatsächlich einen Keller geben musste, fand er keinen Zugang von außen. Dafür gab es ganz in der Nähe einen Kanaldeckel. Paul fragte sich, ob der Tunnel darunter möglicherweise in den Keller führte. Manchmal klappte das bei so alten Häusern wie diesem.
Er kehrte zum Van zurück und holte sich ein dünnes, aber widerstandsfähiges Kabel. Damit ging er zum Kanaldeckel. Er fädelte es durch den Deckel, stemmte die Füße in den Boden, hievte den Deckel in die Höhe und grunzte dabei vor Anstrengung. Schmerzen schossen ihm ins Kreuz und die Sehnen an seinem Hals traten hervor, aber der Kanaldeckel bewegte sich – erst zwei Zentimeter, dann fünf. Schließlich gelang es ihm, ihn zur Seite zu heben und das Loch freizulegen. Mit einem dumpfen Scheppern knallte er auf den Asphalt.
Schweiß tropfte ihm von der Stirn. Er wischte ihn mit dem Handrücken ab. Kanaldeckel waren immer eine heikle Sache – aber auch gutes Geld wert. Diesen wollte er auf jeden Fall in den Van laden, bevor er nachher wegfuhr.
Paul hob die Taschenlampe auf und richtete den Strahl in den Schacht. Seitlich befand sich eine rostige Eisenleiter. Unten herrschte Dunkelheit. Er hörte das Geräusch von fließendem Wasser. Ein übler Gestank stieg aus dem Tunnel auf. Paul zuckte zusammen und wandte den Kopf ab. Natürlich roch er Abwasser, aber auch etwas anderes. Etwas, das sich der Einordnung verweigerte.
»Scheiß drauf«, murmelte er. »Jetzt bin ich schon so weit gekommen, da kann ich mir die Sache auch ansehen.«
Er kehrte zum Van zurück, legte den Werkzeuggurt um und passte ihn so an, dass er um seinen mächtigen Bauch passte. Dann rüstete er sich mit einer Reihe von Werkzeugen aus – dem tragbaren Schneidbrenner, einem Bolzenschneider, einem Brecheisen, Schraubenziehern und einigen anderen Utensilien. Es ließ sich schwer abschätzen, was er davon brauchte, wenn er sich erst im Haus befand, und er hatte keine Lust, noch einmal zum Van zurückzulaufen. Zufrieden kehrte er zum Einstiegsloch zurück. Dort klemmte sich Paul die Taschenlampe unter den Arm, kletterte die Sprossen hinab und verschwand außer Sicht.
8
Javier schlug die Hand über Kerris Mund, ehe sie erneut schreien konnte. Sie wehrte sich dagegen und krümmte sich. Ihr Mund fühlte sich heiß an seiner Handfläche an, und sie stieß eine Abfolge gedämpfter, spitzer Laute hervor. Javier drückte sie fester, und Kerris Hände fuchtelten umher, schlugen nach ihm. Er nahm es kaum wahr. Stattdessen starrte er mit geweiteten Augen Heather an, die soeben aus einem Raum zu ihrer Rechten gekommen war. Ihre verblüffte Miene entsprach seiner eigenen.
»Javier?«
»Heather! Heilige Scheiße, wo bist du gewesen? Gehtʼs dir gut?«
Kerri wehrte sich nicht länger. Javier ließ sie los und lief auf Heather zu, umarmte seine Freundin innig.
»Gehtʼs dir gut?«, wiederholte er. »Als du einfach so weggerannt bist ...«
»Mit mir ist alles in Ordnung ... jetzt jedenfalls.« Seufzend ließ sich Heather gegen seinen Körper sinken. »Ich hab das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Liegt wahrscheinlich am Adrenalin.«
Er streichelte ihr Haar. »Bist du sicher? Du hast dir den Fuß verletzt.«
»Die Blutung hat aufgehört, aber es tut immer noch weh. Hab die Schuhe verloren. Ich bin ein wenig mitgenommen, aber nichts Ernstes. Ich hab mir solche Sorgen gemacht, dass ihr ... dass er euch erwischt haben könnte.«
Javier drückte sie fester. »Wir sind entkommen. Brett auch.«
»Wo steckt er?« Heather sah sich um und hielt nach ihm Ausschau.
»Wissen wir nicht. Kerri hat gesehen, wie er in die andere Richtung abgehauen ist. Wir vermuten, dass ihn dieser Freak verfolgt.«
»Oh mein Gott. Ich hoffe, es geht ihm gut. Und Steph auch.«
Weder Javier noch Kerri sagten etwas.
Heathers Augen weiteten sich. »Mit Steph ist doch alles in Ordnung, oder? Sie ist auch entkommen, richtig?«
»Sie ist tot«, presste Javier hervor. »Dieser ... große Kerl hat sie erwischt.«
»Steph ...«
Etwas kratzte hinter den Wänden – ein leises, federartiges Schaben. Heather und Kerri zuckten zusammen, erschraken vor dem Geräusch.
»Bloß eine Ratte«, flüsterte Javier. »Achtet gar nicht darauf.«
Heather fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase, dann wischte sie sich Tränen aus den Augen. Javier beobachtete sie. Langsam breitete sich ein verhaltenes Lächeln in seinem Gesicht aus.
»Was ist so komisch?«, fragte sie. »Wie kannst du nach allem, was
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