Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
und wie dies möglicherweise mit den Geschehnissen im Day’s Market zusammenhing. Der Reporter vermutete, dass der Einbrecher womöglich von irgendetwas abgeschreckt worden war, weil in der Schule nichts fehlte. Und natürlich hatten die Überwachungskameras der Schule nichts aufgezeichnet.
Als ich das Radio abstellte, hörte ich mein Handy in den Tiefen des Rucksacks klingeln, den ich den ganzen Nachmittag im Wagen gelassen hatte. Ich blickte auf das Display und seufzte erleichtert.
»Hey, Dad«, sprach ich ins Handy, »hast du meine Nachricht bekommen?«
»Ja«, antwortete Dad. Er klang furchtbar müde, und ich konnte ihn vor dem Lärm im Hintergrund kaum verstehen. »Erzähl mir, was passiert ist.«
Ich berichtete von Judes Anruf und versuchte seine Worte exakt zu wiederholen. Dann erzählte ich ihm, dass Jude in Daniels Wohnung im Souterrain von Maryannes Haus gewesen war.
Dad war für einen Augenblick still. »Wir haben die ganze Zeit nach ihm gesucht, und dann war er quasi direkt hinter unserem Haus«, sagte er schließlich. Er klang wütend, schockiert und erleichtert zugleich. »Sonst noch was? Hast du wieder von ihm gehört?«
»Nein.« Ich zögerte einen Moment. Ich war mir nicht sicher, ob ich Dad von Daniels Theorie erzählen sollte, wusste aber, dass ich nichts zurückhalten durfte, was dabei helfen konnte, Jude zu finden. »Nichts Konkretes, aber ich glaube, dass er vielleicht tatsächlich bei unserem Haus gewesen ist.« Dann berichtete ich ihm, dass James etwas vor seinem Fenster gesehen hatte, erzählte von dem Überfall auf den Day’s Market und dem versuchten Einbruch in die Schule. »Daniel glaubt, dass es Jude war.« Ich fuhr gerade in unsere Einfahrt, entschied mich aber, bei laufendem Motor im Wagen sitzen zu bleiben, bis ich das Telefonat mit Dad beendet hatte. Ich wollte nicht, dass irgendjemand unser Gespräch mithörte.
»Eine logische Schlussfolgerung«, meinte Dad. »Das ergibt durchaus Sinn.«
»Wirklich? Aber warum sollte er solche Dinge tun? Wozu ist er zurückgekommen?«
»Ich weiß es nicht, Gracie.« Er seufzte. Im Hintergrund hörte ich eine Lautsprecherdurchsage. Er musste an irgendeinem Flughafen oder Bahnhof sein. »Ich weiß es wirklich nicht.«
»Kommst du nach Hause?«
»Nein«, erwiderte er. »Ich weiß noch nicht, wann ich wieder zurück bin.«
»Wie bitte? Aber Jude war doch hier. Wieso kommst du nicht …«
»Ich muss jetzt gehen. Das war der letzte Aufruf für meinen Zug. Ich erkläre es dir später, aber ich weiß noch nicht, wann ich nach Hause komme.«
Wut kochte in mir hoch. Dad war die ganze Zeit unterwegs, und ich hatte gedacht, dass er verzweifelt nach Jude suchte – nach einer Möglichkeit suchte, unsere Familie wieder zusammenzuführen. Doch vielleicht hielt er sich bloß von uns fern? Warum wollte er sonst nicht nach Hause kommen? Gerade jetzt, wo wir ihn am meisten brauchten!
»Toll. Vergiss aber zwischendurch nicht, wo du eigentlich lebst«, maulte ich.
»Es tut mir leid. Ich komme so schnell es geht zurück.« Dann redete er mit jemandem in seiner Nähe. »Ja, das ist meine Tasche. Ich komme.« Er räusperte sich und sprach wieder ins Telefon. »Noch eine Sache, Gracie. Du darfst unter keinen Umständen auf eigene Faust nach Jude suchen.«
Ich gab ein spöttisches Geräusch von mir. Wenn ich nicht so aufgeregt gewesen wäre, hätte ich wohl gelacht. Ich fand es gleichermaßen lustig wie nervtötend, dass Dad die gleichen Dinge sagte wie Daniel. Als glaubten beide, dass ich nicht fähig sei, nicht nach Jude zu suchen.
»Lass es einfach sein, Gracie. Du weißt ja nicht, worauf du stoßen könntest …« Er seufzte erneut entmutigt ins Telefon. »Wir haben bereits ein Kind verloren. Deine Mutter würde es nicht überleben, wenn du uns auch noch verlässt.«
Später
Mom war auf dem Sofa eingeschlafen, als ich schließlich ins Haus ging. Die Abendnachrichten liefen im Hintergrund. Ich machte mir nicht die Mühe, sie zu wecken, und lief gleich nach oben. Ich war mehr als erschöpft, von den Ereignissen völlig ausgelaugt und konnte kaum meine Augen offen halten.
Ich war schon auf dem Weg ins Bett, als ich James in seinem Zimmer weinen hörte. Es war ein wimmerndes, verängstigtes Weinen, das immer lauter und lauter wurde. Also öffnete ich seine Tür und sah nach ihm. Er saß in seinem Kinderbettchen und rieb sich die Augen. Durch das Licht im Flur konnte ich dicke, fette Tränen erkennen, die an seinem geröteten Gesicht
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