Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
mich auf die Treppe zubewegte.
Ernsthaft, als ob ich in diesem Augenblick tatsächlich noch einen weiteren Grund gebraucht hätte, um meine impulsive Entscheidung zu verwünschen.
KAPITEL 9
Thanksgiving
Fast dreieinhalb Jahre zuvor
»So könnte ich niemals malen.« Ich betrachtete eine Arbeit von Daniel, die er zum Trocknen auf die Arbeitsplatte gelegt hatte.
Es war ein Gemälde der Hände meines Vaters, die für Daniels Geburtstagskuchen einen Apfel schälten. Die Hände sahen lebendig aus, sanft, freundlich und fest. Das Selbstportrait, an dem ich gearbeitet hatte, schien mir im Vergleich dazu ganz stumpf und glanzlos.
»Doch, das kannst du«, sagte Daniel. »Ich bringe es dir bei.«
Ich rümpfte meine Nase. »Als ob du mir was beibringen könntest.«
Doch ich wusste, dass er es konnte. Nach zwei Jahren war dies mein erster neuer Versuch mit Ölfarbe, und schon wieder war ich kurz davor, es aufzugeben.
»Nur weil du so verdammt dickköpfig bist«, erwiderte Daniel. »Willst du nun lernen, wie man besser malt, oder nicht?«
»Doch, ich glaube schon.« Daniel nahm eine Holzfaserplatte aus seinem Werkzeugkasten unter dem Küchentisch. Das Brett sah völlig chaotisch aus und war mit Dutzenden verschiedener Ölfarben beschmiert. »Probier das mal«, sagte er. »DieFarben werden erst richtig erkennbar, während du malst. Es gibt deiner Arbeit viel mehr Tiefe.«
Er half mir, als ich mich von Neuem an mein Selbstportrait machte. Ich konnte den Unterschied kaum glauben. Mit den grünen und orangefarbenen Schichten hinter den lilafarbenen Iris wirkten meine Augen wunderbar. Sie sahen wirklicher aus als alles, was ich je zuvor gemalt hatte.
»Vielen Dank«, sagte ich.
Daniel lächelte. »Wenn ich mehr davon bekomme, dann zeige ich dir diesen tollen Trick mit Leinöl und Firnis. Dadurch werden die Hautfarben erst richtig gut, und du wirst nicht glauben, welche Wirkung es auf deinen Pinselstrich hat.«
»Ja, wirklich?«
Daniel nickte und ging wieder zurück an die Arbeit seines eigenen Portraits. Doch anstatt sich selbst zu malen, wie Mrs Miller es aufgetragen hatte, malte er einen graubraunen Hund, dessen Augen geformt waren wie die eines Menschen. Sie hatten einen tiefen, erdigen Braunton, so wie seine eigenen.
»Daniel!« Mom stand im Kücheneingang. Sie war ganz blass. »Hier ist jemand, der dich sehen möchte.«
Erstaunt wandte Daniel den Kopf.
Ich folgte ihm in den Eingangsbereich, und da war
sie
. Daniels Mutter stand in der Türöffnung. Vor einem Jahr und zwei Monaten hatte sie das Haus verkauft und Daniel bei uns zurückgelassen; ihr Haar war in dieser Zeit etwas länger und blonder geworden.
»Hallo, Baby«, sagte sie zu ihm.
»Was machst du denn hier?« Seine Stimme war brüchig wie Eis. Seine Mutter hatte seit Monaten noch nicht einmal angerufen, nicht einmal zu seinem Geburtstag.
»Ich nehme dich mit nach Hause«, sagte sie. »Ich habe uns eine kleine Wohnung in Oak Park besorgt. Sie ist nicht so wie das Haus, aber hübsch und sauber, und du kannst im Herbst auf der Highschool anfangen.«
»Ich werde nicht mit dir gehen«, erwiderte Daniel mit wütender Stimme. »Und ich werde nicht auf eine neue Schule gehen.«
»Daniel, ich bin deine Mutter. Du gehörst zu mir nach Hause. Du braucht mich.«
»Nein, das braucht er nicht«, schrie ich sie beinahe an. »Daniel braucht Sie nicht. Er braucht
uns
.«
»Nein«, sagte Daniel, »ich brauche dich nicht.« Er drückte sich an mir vorbei und rannte mich dabei fast über den Haufen. »Ich brauche niemanden!« Dann lief er an seiner Mutter vorbei in den Vorgarten.
Mrs Kalbi zuckte mit den Achseln. »Ich vermute, Daniel wird etwas Zeit brauchen, um sich einzugewöhnen. Ich hoffe, Sie haben Verständnis, wenn er Ihre Familie für eine Weile nicht sieht.« Ihr Blick streifte mich. »Ich werde seine Sachen später abholen lassen.« Sie schloss die Tür hinter sich.
Thanksgiving, früher Vormittag
Ich wachte früh vom Geräusch des Windes auf, der am Fenster rüttelte. Zitternd lag ich in meinem Bett. Daniel hatte recht. Er brauchte niemanden. Ich hatte mich in diesem Garten selbst zum Narren gehalten. Daniel brauchte meine Rettungsleine nicht. Er brauchte
mich
nicht.
Ich zog mir die Decke über die Schultern und rollte mich zusammen, doch was ich auch tat, mir wurde in meinem Bett nicht warm.
Das ferne Klappern von Geschirr war der Beweis dafür, dass meine Mutter bereits die Festtafel vorbereitete, in der freudigen Erwartung, dass
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