Urbat: Gefährliche Gnade (German Edition)
Stimme hat er auch.«
Die anderen Ältesten sahen zu Lisa und Gabriel. Einen Augenblick schien es, als hätten auch sie ihre Entscheidung getroffen.
»Das ist doch alles Blödsinn«, ertönte eine Stimme in der Menge.
Ich drehte mich um und sah, dass der Mann mit den blonden Dreadlocks vorgetreten war. Ich versuchte verzweifelt, mich an den Namen zu erinnern, den Lisa erwähnt hatte … Marrock.
»Ich werde meine Stimme keinesfalls diesem Jungen geben, wahrer Alpha oder nicht«, sagte Marrock. »Wie alt ist er? Achtzehn? Die meisten von uns lebten schon zu Zeiten der Französischen Revolution. Was weiß er über die Führung eines Rudels?«
Die drei Männer hinter Marrock nickten zustimmend.
»Wenn Gabriel zu schwach ist, um dein Nachfolger zu werden, dann bestimme mich dazu, anstatt dieses Jungen.« Marrock sah aus, als wollte er vor Daniel auf den Boden spucken.
»Sirhan vertraut dir nicht mal genug, um dich in den Ältestenrat aufzunehmen«, sagte Lisa. »Wie kommst du darauf, dass er dich zu seinem Nachfolger bestimmen könnte?«
Sirhan wurde immer schwächer. »Der Rat soll entscheiden«, keuchte er. »Marrock, Gabriel oder der Junge?«
Der Rat setzte seine Überlegungen fort. Ich fürchtete schon, dass Marrock Daniels Chancen, diesen Tag zu überleben, erheblich geschmälert hatte. Aber dann wandten sich die Ratsmitglieder zu Daniel. »Hier, hier! Unsere Wahl fällt auf den Jungen!« Sie fielen einer nach dem anderen auf die Knie, pressten die Faust auf den Boden und neigten den Kopf vor Daniel.
»So sei es«, sagte Sirhan.
Viele der anderen Anwesenden senkten die Waffen und folgten dem Beispiel der Ratsmitglieder.
Marrock und fünf andere Männer blieben aufrecht stehen. »Wenn dies die Entscheidung des Rats ist, bin ich nicht länger ein Mitglied dieses Rudels.«
Mit fliegender Robe verließ er mit den fünf anderen den Gemeindesaal.
»Sollen wir sie zurückholen?«, fragte jemand.
Sirhan senkte den Kopf. »Es steht ihnen frei zu gehen.«
»Ich fürchte, wir werden sie während der Zeremonie wiedertreffen«, sagte Gabriel. »Aber nun lasst uns Daniel Kalbi in unseren Reihen …«
Lisa zupfte an Gabriels Gewand und sah ihn durchdringend an.
»Ah ja, natürlich«, fuhr Gabriel fort. »Lasst uns Daniel Etlu, Enkel von Sirhan Etlu, in unseren Reihen willkommen heißen. Er lebe hoch!«, rief er.
»Er lebe hoch! Er lebe hoch!«, riefen die knienden Männer immer wieder. Der Stimmenchor war so laut, dass ich mir fast die Ohren zuhalten musste.
»Hoch! Hoch!«, rief ich und klatschte in die Hände. Dad und sogar Jude stimmten in den Chor ein. Nur Talbot stand reglos da, aber ein Lächeln spielte um seine Lippen.
Daniel stand aufrecht da und ließ die Hochrufe über sich ergehen. Nie hatte er eine richtige Familie gehabt, doch nun gehörten fast vierzig Personen zu seinem Clan. Nach einem kurzen Augenblick räusperte er sich und hob die Hand. »Ähm, ihr dürft jetzt gerne aufstehen, wenn ihr wollt.«
Lisa lachte und klatschte in die Hände. Ich lief zu Daniel und umarmte ihn. Unsere Freude währte jedoch nur kurz, denn plötzlich gab Sirhan ein Stöhnen von sich und sackte auf seinem Stuhl zusammen. Der Alterungsprozess schritt unaufhaltsam voran. Seine Augen wurden trüb und schlossen sich halbwegs. Wenn nicht sein keuchender Atem gewesen wäre, hätte ich ihn für tot gehalten. Zwei der Wächter – sein medizinisches Personal, wie ich vermutete – beugten sich vor und überprüften seinen Zustand.
Ich ließ Daniel los und ging zu Gabriel. »Was sollen wir tun? Wir können ihn nicht hier in Rose Crest sterben lassen.«
»Wir müssen ihn woanders hinbringen. Wo es abgeschieden, aber dennoch bequem für ihn ist. Hast du eine Idee?«
»Die Hütte von meinem Großvater Kramer. Sie ist seit ein paar Jahren nicht benutzt worden. Allerdings dauert die Fahrt dorthin vier Stunden.«
Sirhans Aufpasser schüttelte den Kopf. »Er hatte schon eine anstrengende Reise. Wir sollten ihn heute Nacht nicht woanders hinbringen.«
»Dann morgen«, sagte Gabriel. »Wir suchen eine Unterkunft für heute Nacht und fahren morgen früh gleich los.«
»Es gibt noch mein Haus«, sagte Daniel. »Er könnte das Schlafzimmer oben nehmen.«
»Nein, dieser Ort ist nicht sicher«, sagte ich. Ich erinnerte mich daran, was Slade mir erzählt hatte. Der Akh hatte seine Gedanken gelesen. »Niemand sollte sich dort aufhalten.«
Gabriel nickte. »Er kann mein Zimmer hinter der Pfarrkirche nehmen. Ich wollte heute Nacht
Weitere Kostenlose Bücher