Urbat: Gefährliche Gnade (German Edition)
heißen, dass der weiße Wolf deine natürliche Form ist?« Ich legte die Hand auf seinen Arm. Von seiner Haut strahlte Hitze ab. Das erinnerte mich viel zu sehr an die Nacht, in der er mit aller Kraft versucht hatte, menschlich zu bleiben. Ich legte die Finger um seine Ellbogen und hatte das Gefühl, ihn festhalten zu müssen. Und davor zu bewahren, mich wieder allein zu lassen. »Nicht das hier? Nicht du? Nicht Daniel ?«
»Der weiße Wolf glaubt das anscheinend.« Daniel legte nun seinerseits die Hände auf meine Arme. Mit dem Ringfinger berührte er leicht meine Haut. »Das hier hilft mir«, sagte er und deutete dabei auf den Mondsteinring an seinem Finger. Es war der Ring, den Sirhan einst getragen hatte. Daniel hatte ihn nach dessen Tod von Gabriel bekommen – als ein Andenken an den Großvater, den er nie wirklich gekannt hatte. »Und du hilfst mir auch. Wenn ich in deiner Nähe bin, kann ich mir nichts anderes vorstellen als die menschliche Form. Denn so kann ich mit dir zusammen sein.«
»Dann solltest du besser so nah wie möglich kommen.« Ich zog ihn dicht an mich und umarmte ihn, so fest es ging, obwohl mich sein heißer Körper schwitzen ließ.
»Ich werde mich bei der Zeremonie nicht in den Wolf verwandeln«, sagte er. »Ich fürchte, die Mondfinsternis wird so einen starken Einfluss auf den weißen Wolf ausüben, dass ich dann vielleicht nicht mehr den Weg zurückfinde.«
Ich nickte. Mir war bewusst, dass es andererseits auch einen großen Nachteil bedeuten könnte, wenn er sich nicht in den Wolf verwandelte. »Ich hab mein ganzes Geld auf dich gesetzt«, sagte ich. »Auch wenn du dich nicht verwandelst.«
Daniel lächelte vorsichtig. »Mein ganzes Leben lang wollte ich normal sein. Und jetzt begnüge ich mich eben mit zwei Beinen, zwei Armen und einem menschlichen Gesicht.«
»Mir gefällt dein Gesicht«, sagte ich und versuchte, munter zu klingen.
»Ich mag deins auch.« Er drehte den Kopf und küsste mich mit Lippen, die so heiß waren wie Feuer. Wir küssten uns, bis ich spürte, dass sein ganzer Körper von einem heftigen Schauder durchzuckt wurde. Noch immer kämpfte er gegen den Wolf. »Möchtest du heute Nacht wieder bei mir bleiben?«
»Ja«, erwiderte ich.
»Der weiße Wolf hat unrecht«, sagte er und küsste mich auf die Schulter. »Das hier – du und ich zusammen unter dem alten Walnussbaum – das ist mein natürlicher Zustand.«
»Anscheinend landen wir am Ende immer hier«, sagte ich. »Das ist ein schönes Gefühl.«
»Das ist zu Hause«, sagte er.
Ich seufzte. Denn ich hatte keine Ahnung, wie zu Hause nach dem morgigen Tag überhaupt noch aussehen könnte. Wenn wir bei der Zeremonie versagten, dann würde diese Familie – um deren Zusammenhalt ich so lange und hart gekämpft hatte – vielleicht völlig auseinandergerissen werden. Ich könnte alle meine Lieben für immer verlieren.
Wenn wir jedoch Erfolg hätten … Wenn wir James zurückbekämen … Und wenn Daniel und ich die Alphas eines ganz neuen Rudels würden … dann hätte ich noch immer keine Ahnung, was zu Hause eigentlich bedeuten würde. Wären wir dann gezwungen, Rose Crest zu verlassen und die Etlus anzuführen? Müsste ich meine gerade wiedervereinte Familie zurücklassen?
Samstagmorgen, n och fünfzehneinhalb Stunden bis zur Zeremonie
Ich wurde von ein paar Sonnenstrahlen geweckt, die durch das vernagelte Fenster des vorderen Wohnzimmers drangen. Nachdem es mir in der Nacht zuvor unter dem Baum zu kalt geworden war, waren Daniel und ich ins Haus gegangen. Eine Weile hatten wir eng umschlungen auf dem Sofa gesessen. Daniel hatte mich gebeten, ihm haargenau zu erzählen, wie sich unsere Verlobung abgespielt hatte. »Ich möchte zumindest in der Lage sein, so zu tun, als würde ich mich erinnern«, hatte er gesagt, aber ich wusste, dass er eigentlich nach Ablenkung suchte, um nicht an den Einfluss des weißen Wolfs denken zu müssen.
Also berichtete ich ihm von jener Nacht und erzählte ihm Geschichten, bis sein Körper sich schließlich abkühlte und er mit dem Kopf an meine Schulter gelehnt einschlief.
Jetzt rührte er sich neben mir und sah aus wie ein Engel, als die Sonnenstrahlen auf seinem goldenen Haar tanzten.
Ich konnte meine Familie in der Küche hören. Von draußen drang das Geräusch sich öffnender und wieder schließender Autotüren herein und ich hörte die Stimmen der verlorenen Jungs durch das zerbrochene Fenster. Es klang so, als würden sie etwas Großes auf die Ladefläche von
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