Urbat: Gefährliche Gnade (German Edition)
zum Himmel –, »ist derjenige, an den du dich jetzt wenden musst.«
»Und wenn ich nicht kann? Was ist, wenn ich … Angst habe?«
Gabriel sah mich neugierig an. »Angst davor, dass du vielleicht keine Antwort bekommst. Hast du deinen Glauben verloren …?«
»Nein. Ich weiß, dass Gott hier ist. Ich verstehe ihn bloß nicht mehr. Ich begreife nicht, wieso er die Urbats überhaupt erschaffen hat. Wieso er es zulassen konnte, dass sie sich zum Schlechten verleiten ließen. Wozu hat er diesen Fluch erschaffen? Warum sollte er uns das antun? Warum sollte er mir das antun? Wozu verwandelt er Daniel in einen weißen Wolf und hält ihn in dieser Gestalt gefangen? Das ist nicht das, was ich wollte. Es ist nicht das, worum ich gebeten habe.«
»Gebeten?«
»Als ich das letzte Mal gebetet habe – im Lagerhaus – habe ich Gott angefleht, Daniel zu verschonen. Einen Weg zu finden, wie er ihn und meine Familie retten könnte. Ich habe Gott gesagt, dass er mich sterben lassen könne, IHN aber angefleht, die anderen zu verschonen. Ich war zum Sterben bereit, aber dann ist Daniel von der Galerie gesprungen und wurde in den weißen Wolf verwandelt. Und dann ist alles so gekommen, wie es jetzt ist. In gewisser Weise wurden alle verschont. Meine Bitte wurde erhört, aber nicht so, wie ich es erwartet hatte. Diesen Preis war ich nicht bereit zu zahlen. Ich will nicht, dass das noch einmal passiert.« Ich biss mir auf die Lippe. Eine Weile saßen wir schweigend da, bis ich schließlich einen klaren Gedanken fassen konnte. »Ich glaube, tief im Innern bin ich wirklich zornig auf Gott.«
»Es gab Zeiten, in denen ich gezweifelt und mich auf meinem Weg verirrt habe. Ohne meinen Anker wäre ich wahrscheinlich noch immer verloren. Und dennoch weiß ich, dass ein Sinn in all dem liegt – auch wenn ich nach fast einem Jahrtausend immer noch nicht verstanden habe, wie Gottes Wege beschaffen sind. Aber ich weiß, dass du diesen Zorn aus dir hinaustreiben und deinen eigenen Anker finden musst. Und wie der Diener in der Geschichte musst du lernen zu vergeben, damit dir selbst vergeben werden kann. Sogar wenn Gott derjenige ist, dem du vergeben musst. Ja, sogar wenn du es selbst bist.«
Ich senkte meinen Blick. Vielleicht war ich diejenige, auf die ich am meisten zornig war. Ich gab ein verlegenes Lachen von mir, um meine innere Anspannung zu lösen. »Erinnere mich daran, dass ich nie wieder so eine Gedankenverschmelzungsnummer mit dir durchziehe. Du bist viel zu einfühlsam.«
»Gedankenverschmelzung?«, fragte Gabriel. Mit dieser seltsamen Mischung aus europäischem und amerikanischem Akzent klang seine Frage ziemlich komisch.
»Ach, stimmt. Ich hab vergessen, dass du keine Filme ansiehst.«
»Du denkst wohl, dass ich in all diesen Jahrhunderten die Zeit dazu gefunden haben sollte.«
»Was ist denn dein Anker?«, fragte ich. Ich hatte Gabriel niemals wirklich als meinen Freund betrachtet – aber da er nun jetzt einmal so viel über mich wusste, fand ich es an der Zeit, ihm ein paar persönliche Fragen zu stellen. »Achthundert Jahre sind eine lange Zeit, um niemals die Kontrolle aus der Hand zu geben.«
»Ich habe nie behauptet, dass ich nicht manchmal die Kontrolle verliere. Ganz im Gegenteil.« Ein Schatten huschte über sein Gesicht, und ich merkte, dass es viel zu intim wäre, ihn über diese Momente auszufragen. Andererseits wusste ich ja bereits, was mit seiner Schwester Katharine geschehen war. Sie war durch seine Hände – oder besser gesagt: Zähne – gestorben, kurz nachdem er dem Fluch des Werwolfs verfallen war. »Aber ich finde immer wieder meinen Weg zurück – dank ihr.« Gabriel öffnete das vor ihm liegende Skizzenbuch. Die Zeichnung eines Frauengesichts bedeckte die Seite. Die Frau war wunderschön, mit hellen Haaren und feinen Zügen, und sie war mit so viel Sorgfalt gezeichnet, dass es nur das Werk eines wahren Künstlers sein konnte – einem Meister, der sein Modell offenbar liebte.
»Hast du das gezeichnet?«
»Ja.« Gabriel klopfte mit dem Stift auf das Blatt. »Zeichnen ist etwas, das ich tue, wenn ich aufgewühlt bin. Nicht ganz so wirksam wie Tai Chi, aber dafür starren dich die Leute auch nicht so an, wenn du es in der Öffentlichkeit machst.«
»Sie ist wunderschön.« Ich hatte in Gabriel immer den Mönch und den Werwolf gesehen, ja sogar den Religionslehrer einer Highschool, sodass ich darüber vergessen hatte, dass er auch ein Künstler war. Er war einer der Bildhauer, die die
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