Urbat: Gefährliche Gnade (German Edition)
nicht weiterlaufen konnte.
Was sollte ich jetzt bloß tun? Wie sollte ich einen großen, verletzten weißen Wolf verstecken.
»Du musst dich anstrengen. Wir müssen hier weg.«
Verstand er überhaupt, was ich sagte?
Er keuchte ein paarmal und hinkte weiter. Wir waren vielleicht zwanzig Meter vorwärtsgekommen, als er wieder stehen blieb und fast völlig zusammenbrach. Es war klar, dass er mit seiner Verletzung nicht weiterlaufen konnte. Wenn er doch nur seine menschliche Form hätte annehmen können, dann wäre sein Vorderlauf ein Arm gewesen und er hätte ihn zum Laufen nicht benutzen müssen.
Wenn er menschlich gewesen wäre, hätte ich ihn auch viel einfacher verstecken können. Diese Jäger suchten schließlich nach einem Wolf und nicht nach einem Jungen. Ich spürte die Wärme des Mondsteins auf meiner Brust und dachte daran, was Gabriel darüber gesagt hatte, wie ich Daniel zurückverwandeln könnte.
Ich nahm den Anhänger ab und ließ den Mondstein an seinem langen Band hin- und herpendeln. Er wirkte plötzlich ganz schwer, so als wäre das Gewicht meiner Entscheidung in ihm eingeschlossen.
Ich hatte Gott nicht nur um Hilfe angefleht, sondern auch um die Fähigkeit gebeten, Daniel zurückbringen zu können. Ich hielt das Mittel in der Hand, die Kraft es auch anzuwenden, musste allerdings aus mir selbst kommen.
War ich bereit? Konnte ich es tun?
Irgendwo in der Ferne hörte ich ein Rufen, das jedoch nicht so weit weg war, um ruhig bleiben zu können. Ich hatte nicht viel Zeit, bevor man uns entdecken würde.
Ich musste es jetzt tun, sonst wäre es für immer zu spät gewesen.
Ich musste bereit sein.
»Lieber Gott, hoffentlich mache ich das Richtige.«
Ich legte den Mondsteinanhänger um den Hals des Wolfs. Eine Hand legte ich auf seine unverletzte Schulter, und mit der anderen presste ich den Stein so fest es ging auf seine Brust. Erst wehrte er sich. Ich spürte, dass er sich losreißen wollte. Ich hatte Angst, ihm wehzutun, musste dieses Gefühl jedoch beiseiteschieben. Ich atmete ein paar Mal tief ein, leerte meinen Kopf und öffnete mich, um all meine positive Energie auf den Stein zu übertragen. Jedes noch so kleine Stückchen Liebe, das ich in meinem Herzen – und meiner Seele – für Daniel hatte, versuchte ich nun, zu ihm zu leiten. Der Stein wurde in meiner Hand langsam immer heißer, brannte sich wie Schwefel in mein Fleisch, aber ich ließ nicht los.
»Komm zurück zu mir«, sagte ich zu Daniel. Ein plötzlicher Energieschwall durchfloss mich. Er begann in meinen Zehen, schoss dann von meinen Beinen in den Brustkorb, sodass sich mein Herz fast anfühlte, als wollte es zerspringen, und setzte sich dann durch Arme und Hände fort bis zu dem Mondstein. Mit einem Mal leuchteten Lichtstrahlen unter meiner Handfläche hervor, die direkt von dem gleißenden Stein herrührten. Die Energie, die von dem Mondstein ausstrahlte, war so stark, dass sie mich förmlich zurückstieß, ich in den Matsch fiel und den weißen Wolf loslassen musste.
Blitze durchzuckten die Dunkelheit. Ich schaute nach oben und war von dem hellen Licht sofort geblendet. Ein paarmal kniff ich die Augen zusammen, und als ich wieder etwas sehen konnte, war der weiße Wolf verschwunden. Die Stelle, wo er gesessen hatte, war völlig leer.
»Nein«, schrie ich, drehte mich ein paarmal voller Panik im Kreis herum und versuchte zu begreifen, was passiert war. Hatten die Blitze ihn erschreckt? In der aufgeweichten Erde war keine Spur von ihm zu sehen. Wie sollte ich ihn wiederfinden? Der Regen lief mir in die Augen. Ich versuchte, ihn wegzuwischen, aber ohne großen Erfolg. Sogar mit meiner speziellen Nachtsicht konnte ich in diesem Sturm nicht viel weiter als ein paar Meter sehen.
»Daniel?«, rief ich laut. »Wo bist du?«
Ich lief ein paar Schritte weiter.
Dann hörte ich etwas hinter mir. Eine schwache Stimme, die im Lärm des Unwetters kaum zu hören war. Eine Stimme, die ich nie wieder zu hören geglaubt hatte … Und als ich sie hörte, blieb mir fast das Herz stehen.
»Gracie?«, krächzte sie.
Ich fuhr herum und wäre in der matschigen Erde fast ausgerutscht.
Irgendjemand war da. Durch den Regen konnte ich eine weiße Gestalt ausmachen, die sich an einem Baumstamm festhielt. Ihre untere Körperhälfte war von Zweigen verdeckt.
Zögernd ging ich ein paar Schritte auf die Gestalt zu und konnte meinen Augen kaum trauen. Dann noch einen Schritt. Und noch einen. Mein Körper bewegte sich wie in Zeitlupe, und die
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