Urbat: Gefährliche Gnade (German Edition)
wünschte wirklich, dass sie das Gewehr endlich loslassen würde.
»Vielen Dank«, sagte ich und sparte mir dabei den herrischen Tonfall. »Aber du kannst es mir jetzt zurückgeben.« Ich streckte die Hand aus und machte ihr ein Zeichen, mir die Waffe zu übergeben. Weshalb hatte sie überhaupt danach gesucht?
Charity schüttelte den Kopf und verstärkte den Griff um das Gewehr. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie noch irgendwem das Gesicht wegblasen. »Ich hab gesehen, dass du gelogen hast«, sagte sie und beantwortete meine ungestellte Frage. »Dein Hals war rot wie die Hölle. Ich wusste nur nicht, worüber du gelogen hast. Und dann dachte ich mir, wenn du tatsächlich im Wald gewesen bist, dann wärest du über den Zaun geklettert. Also bin ich losgegangen und hab ein bisschen rumgeschnüffelt. Ich hätte echt nicht damit gerechnet, dass du Waffen versteckst.« Sie tippte mit dem Finger an den Gewehrlauf. »Aber jetzt will ich wissen, wieso. Ich will die Wahrheit wissen. Und ich gebe dir das Gewehr erst, wenn du mir geantwortet hast.«
Wow. Meine kleine Schwester benutzte ein Jagdgewehr als Druckmittel? Tja, es bestand wohl absolut kein Zweifel daran, dass wir verwandt waren …
»Du hast diese Jäger im Wald angegriffen und ihre Waffen geklaut, stimmt’s?«, fragte sie.
Ich wollte gerade den Kopf schütteln, merkte aber, dass ich Charity nichts vormachen konnte.
»Wie sollten die Gewehre denn sonst unter der Veranda gelandet sein, wenn du sie nicht dort hingelegt hast?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht hat irgendjemand …«
»Du lügst schon wieder.« Sie deutete auf meinen rot gefleckten Hals. »Aber ich verstehe nicht, wieso. Warum hättest du ein paar Jäger angreifen sollen? Und wozu hättest du ihre Waffen stehlen und dann verstecken sollen? Und wie , überhaupt? Und warum hättest du das alles tun sollen, um irgendeinen Wolf zu retten? Das ist doch nicht normal. Aber du verhältst dich ja schon seit einem Jahr total merkwürdig. Seit Daniel zurückgekommen ist.«
Sie starrte Daniel an. Er schob seine Hände in die Taschen der Pyjamahose und versuchte, ganz unbeteiligt auszusehen – was ihm allerdings nur zum Teil gelang, aber dafür traten seine Brustmuskeln auf interessante Weise hervor. Charitys Wangen röteten sich zart; vermutlich wurde ihr gerade bewusst, dass Daniels Oberkörper nackt war. Immerhin war sie ein Mädchen. Und selbst wenn sie mir gerade eine Standpauke hielt, konnte sie die perfekten Formen seines Körpers wahrscheinlich nicht ignorieren.
Während sie ihn ansah, runzelte sie plötzlich die Stirn. »Ist das da … eine Schusswunde?« Sie deutete mit dem Gewehrlauf auf die Wunde an Daniels Schulter. Mein Magen krampfte sich zusammen. »Oder eine Brandwunde? Oder beides?«
Daniel sah mich fragend an. Aber ich hatte keine Chance, etwas zu sagen.
»Oh, mein Gott.« Das leichte Rosa auf Charitys Wangen verwandelte sich in leuchtendes Rot. Ich konnte beinahe sehen, wie sich die kleinen Rädchen in ihrem Kopf drehten und ihr plötzlich etwas klar wurde. »Silberkugeln? Diese Jäger waren also gar nicht hinter einem normalen Wolf her, oder? Der Sheriff hat doch davon gesprochen, dass das Heulen dieses Wolfs in der ganzen Stadt zu hören war. Das ist aber gar nicht möglich. Einen normalen Wolf kann man höchstens in zwei oder drei Kilometern Entfernung hören. Ich habe im letzten Jahr für mein Wissenschaftsprojekt in der Schule Wölfe studiert. Ich weiß es also ganz genau.«
Es gefiel mir nicht besonders, wie sie immer wieder das Wort normal betonte. Und noch weniger mochte ich, wie sie jetzt das Gewehr in ihren unsicheren Händen hielt und es auf Daniel richtete.
»Charity, ich weiß nicht, was du dir da zusammenreimst, aber …«
Sie riss das Gewehr herum und richtete es auf mich. Instinktiv hob ich die Hände.
»Nimm das Ding runter!«
»Und ich verstand die ganze Zeit nicht, wieso du dein eigenes Leben für irgendeinen Wolf riskieren solltest.« Sie schwenkte den Gewehrlauf wieder in Daniels Richtung. »Aber jetzt weiß ich, wieso …«
»Was glaubst du denn zu wissen?«, fragte Daniel. Seine Stimme klang ganz ruhig, wie die eines Therapeuten.
»Ich musste für das Projekt auch was über die Mythologie der Wölfe lesen. Ich weiß, was darin gesagt wird über Wölfe, oder Menschen, die von Silber verbrannt werden können. Und außerdem hab ich gesehen, wie du einen Flickflack vom Dach herunter gemacht hast. Normale Menschen können so was nicht.«
Ich kicherte. »Du
Weitere Kostenlose Bücher