Urod - Die Quelle (German Edition)
mühsam.
Thomas wurde mit einem mal bewusst, dass er den fortwährenden Regen schon seit geraumer Zeit nicht mehr wahrgenommen hatte. Er war zu einem Teil der Landschaft geworden. Er störte nicht mehr. Die trockene Hitze, die sie auf ihrem Hinweg erlebt hatten, und die sie vollkommen ausgedörrt hatte, schien Lichtjahre entfernt zu sein. Es war noch ein paar Grad kälter geworden, seit sie hier waren. Die Vegetation war von einem üppigen, fast unnatürlichem Grün, doch schon bald würden die am Boden liegenden Blätter anfangen zu faulen. Alles würde verwesen. Sich verwandeln. So wie die Menschen sich in Urods verwandelt hatten. Thomas hatte das ungute Gefühl, dass sie erwartet wurden; dass sie in eine Falle liefen. Es war zu ruhig. Der Anführer der Urods, sein ehemaliger Professor, hatte eine solch beängstigenden Intelligenz ausgestrahlt, als er ihn bei Dragos Leichnam gesehen hatte. Tierisch und grausam – und dennoch schien er genau zu wissen, was er tat. Die symbolische Geste mit Dragos Kopf. War dies nicht etwas, das die Krieger seit jeher machten, um ihre Überlegenheit zu demonstrieren? Ihre Furchtlosigkeit. Psychologische Kriegsführung nannte man das heutzutage. Thomas konnte sich nicht vorstellen, dass Harris sie davon kommen lassen würde. Wo war er? Hatte er nicht damit gerechnet, dass sie so viel Mut besaßen, die Quelle zu vernichten? Oder wusste er ganz genau, was sie vorhatten?
Sie waren nun ganz in der Nähe des Plateaus und mussten nur noch über die natürlichen Terrassen-Formationen tiefer in den Felsen hinein. Der Aufstieg begann.
Der Regen hatte die Felsen glitschig gemacht und sie hatten Schwierigkeiten, die Waffen in den Händen zu halten und gleichzeitig zu klettern. Das letzte Mal war es trocken gewesen. Zwei von ihnen hielten jeweils Wache, während die anderen versuchten, die Felsen zu erklimmen. Enza und Miles waren die Ersten, die nach oben kletterten. Enza brauchte Zeit, um den Sprengstoff richtig zu platzieren. Sie sollte schon mal beginnen, auch wenn Miles als Schutz für sie unzureichend war. Doch was jetzt am ehesten zählte, war die Zeit. Sie hatten es bis hierher geschafft, ohne angegriffen zu werden. Selbst wenn die Urods sie nun bemerkten, brauchten sie eine Weile, bis sie die Studenten erreichten. Bis dahin wäre Enza vielleicht fertig und die Urods würden in die Sprengfalle geraten, die sie für sie ersonnen hatten.
Enza hatte wegen ihres geschienten Arms Schwierigkeiten, das rutschige Gestein zu erklimmen. Miles musste sie immer wieder festhalten und wäre beinahe einmal selbst deswegen gestürzt. Enza erlaubte sich nicht darüber nachzudenken, was alles passieren könnte. Sie konzentrierte sich nur auf eines – ihre Aufgabe. Ihre Klamotten klebten ihr am Körper und sie wusste schon lange nicht mehr, ob ihr heiß oder kalt war. Sie hatte den Tunnelblick eines Menschen, der ganz auf ein Ziel hin arbeitete. Sie wusste nicht mal, ob es Miles oder Sebastian war, der sie auf ihrem Weg begleitete. Sie wollte nur endlich zur Quelle kommen und sie vernichten. Für den Bruchteil einer Sekunde empfand sie plötzlich unendliches Bedauern darüber. So als sei die Quelle ein Teil von ihr geworden. Das war sie auch. Aber ein Teil, der ausgelöscht werden musste, um jeden Preis.
Enza hatte das Plateau nun fast erreicht. Sie stand vor der schmalen Passage – ihr letztes Hindernis auf dem Weg zur Quelle. Sie zögerte. Trotz allem, was auf dem Spiel stand, verspürte sie Angst vor der Enge. Obwohl es um ihr Leben ging und um das so vieler anderer Menschen, konnte sie ihre erbärmliche Furcht vor der Begrenztheit nicht ablegen. Zumal sie darin kurz verweilen müsste, um die erste der beiden Patronen mit dem Sprengstoff anzubringen. Das Bild vor ihren Augen verschwamm.
„Ich schaffe das nicht!“ stöhnte sie.
Da wurde sie plötzlich von hinten gepackt. Ihr Herz setzte für einen Schlag aus, aber es war nur Viola, die Enzas Arm fest in ihren schmalen Händen hielt.
„Und ob du das schaffst. Für Nicole, für Drago – für uns alle! Hast du verstanden?!“
Enza schloss die Augen. Sie stand da wie angewurzelt. Unfähig, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Sie wollte etwas sagen, doch es kam nur ein Röcheln heraus.
„Sieh mich an!“ sagte Viola ruhig.
Enza schlug die Augen wieder auf und blickte direkt in Violas schöne, blaue Augen, die in ihrem blassen Gesicht leuchteten wie zwei Aquamarine.
„Du bist stark. Du kannst alles tun, was du willst. Wir werden
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