Urod - Die Quelle (German Edition)
Freude. Das Gefühl, genau das zu durchlaufen, wozu eine Frau geschaffen war. Leben zu schenken. Ein kleines, winziges Etwas in sich zu tragen, es mit dem eigenen Körper zu schützen und zu nähren und schließlich auf die Welt zu bringen. Sie wollte es schon laut herausschreien, so glücklich war sie mit einem Mal, doch beim Anblick von Sebastian und Thomas fiel ihr ein, dass sie gar nicht wusste, wer von den beiden der Vater war. Oh, Gott! Das ist doch nicht möglich! Wie oft hatte sie über die Frauen gelacht, die sich mit dieser Art Problem herumschlagen mussten. Und jetzt war sie selbst eine von ihnen. Jemand packte ihren Arm. Das brachte sie wieder zurück in die Realität.
„ Schatz, was ist denn los? Du siehst aus, als hättest du einen verdammten Geist gesehen!“
Sebastian fixierte sie, als wollte er ihre Gedanken lesen. Sie schüttelte seinen Griff ab. Aber auch Thomas ließ sie nicht aus den Augen. Als witterten sie beide, dass etwas im Gange war. Dass sie ihnen ein Geheimnis verschwieg. Sebastian durfte unter keinen Umständen davon erfahren. Nur mit Thomas konnte sie besprechen, was nun zu tun sei. Doch was war denn zu tun? Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie das Baby behalten wollte. Egal, wer der Vater war. Was also waren die Alternativen?
„ Ich bin nur hungrig“, erklärte sie hastig und zog Sebastian mit sich fort, aus Angst, Thomas könnte eins und eins zusammen zählen und etwas Dummes sagen.
Oder tun.
Der Urod beobachtete sie durch das Fenster. Er konnte ihre Körper und Gesichter lediglich als Musterveränderung auf der Gitterstruktur seines Gesichtsfeldes erkennen. Aber um zu wissen, was in der Baracke vor sich ging, brauchte er gar nichts zu sehen. Das Sehen war für ihn zu einer entbehrlichen Wahrnehmungsfähigkeit geworden. Viel wichtiger war sein olfaktorischer Sinn. Er konnte sie alle riechen. Jeden einzelnen von ihnen. Überall hatten sie ihre Duftspuren hinterlassen. Es war so leicht, ihnen zu folgen, so leicht herauszufinden, wo sie gewesen waren. Und er konnte sie hören. Jeden ihrer Schritte, selbst auf dem weichen Boden des Waldes. Ihren Atem. Sogar ihr klopfendes Herz, wenn er nur nah genug an ihnen dran war. Doch das vermied er möglichst, denn ihre lauten Stimmen verursachten ihm Schmerzen. So empfindlich war sein Gehör geworden. Und auch das Trommeln des Regens auf das Blechdach der Baracken war kaum auszuhalten. Regen war schlecht. Dann fühlte er sich desorientiert und vollkommen ausgeliefert. Ja, verloren. In einer engen Nische tief im Inneren des Felsens wartete er dann zusammen mit den anderen ab, dass die unerträgliche Kakophonie von Milliarden von Tropfen, die auf Blätter, Steine, Erde und Wasser fielen, endlich aufhörte. Er versuchte dann, sich nur auf seinen Geruchsinn zu konzentrieren. Wenn er nicht mehr sehen und hören könnte, wäre er dennoch in der Lage gewesen, sich perfekt in dieser Welt zurecht zu finden. Und es hatte ihm ein neues Universum erschlossen in einer Welt, die er zu kennen glaubte. Dinge, die ihn vor einiger Zeit noch geekelt hatten, waren nun angenehm und interessant, da sie einem Informationen lieferten, für die er früher vollkommen blind gewesen war. Angenehm oder widerlich waren mit einem Mal keine Kriterien mehr. Die einzigen Kategorien, die noch Wichtigkeit hatten, waren essbar und nicht essbar. Auszumachen, wo es etwas gab, das seinen Körper am Leben erhalten konnte. Alles andere war vollkommen bedeutungslos geworden.
Die Menschen in der Baracke hatten zur Zeit die größte Bedeutung. Er konnte ihre Angst riechen und die anderen rochen sie auch. Sie hatten Angst vor ihm. Vor ihm und seiner Herde. Sie hatten Angst, so zu werden wie er. Wie ahnungslos und dumm sie waren. Aber das spielte keine Rolle. Sie waren die Beute. Nichts anderes zählte. Sie würden ihnen helfen, die nächsten Wochen zu überleben. Entscheidende Wochen. Denn dann wären sie bereit, dieses Gebiet zu verlassen, sich von ihrem Ursprung zu entfernen und in Gebiete vorzudringen, die voller Essen sein würden. Sie mussten nur auf den richtigen Zeitpunkt warten. Und der wäre schon bald gekommen. Sehr bald.
Thomas hatte ein Feuer im Ofen in der Baracke entzündet, damit ihre durchnässten Klamotten trocknen konnten. Sie hatten sich umgezogen und etwas gegessen, vielmehr hatten sie den Inhalt der Konserven hinunter geschlungen, denn Zeit war ein Luxus, den sie nicht hatten. Drago kaute nicht einmal. Er setzte die geöffnete Dose an
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