V wie Viktor
den ich zunächst nicht zuordnen konnte.
»Hast du eine Ahnung, was das ist?«
Lin streckte den Kopf über meine Schulter und sagte: »Ein Trockenklo, was sonst?«
Ich starrte sie kurz an, ihren vollkommen ernsten Gesichtsausdruck, der so gar nicht zu dieser lapidaren Antwort passte und begann zu prusten. Sie grinste mich schief an und schnappte sich eine der Wasserflaschen.
»Wie die in den Flugzeugen. Ist doch gut. Dann müssen wir wenigstens nicht ins Eck pinkeln.«
Das war's mit meiner Fassung! Ich lachte hysterisch, bis mir die Tränen liefen, konnte mich fast nicht mehr beruhigen. Sie trank ungerührt und streckte mir dann die Flasche hin. Das eisige Wasser kühlte mein Gemüt wieder etwas ab. Nachdem wir einen Teil der Sandwiches verspeist hatten, streckten wir uns auf der Bank aus. Lin lag vor mir, sie war kleiner und leichter, also konnte ich sie besser im Arm halten.
»Anna?«
»Ja Liebes?«
»Hast du keine Angst?«
»Doch! Eine Scheißangst!«
»Ich auch.«
Ich zog sie näher an mich, sie nahm meine Hände fest in ihre und sagte: »Aber wir schaffen das! Ganz bestimmt. Irgendwie kommen wir hier wieder raus.«
Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, aber mein Magen krampfte sich zusammen. Tapfere kleine Lin. Sie hatte immer noch keine Ahnung, in was sie da reingestolpert war. Mir gingen die Worte der Frau nicht aus dem Sinn. Er! Sie hatte ›er‹ gesagt. Ich verdrängte die Bilder, die in meinem Kopf entstanden, sofort wieder.
Nein, bitte, das darf nicht sein.
Wir waren irgendwann doch eingeschlafen. Der Druck auf meiner Blase weckte mich auf. Um uns herum war es stockdunkel und ein Blick zu den kleinen Fenstern bestätigte mir, dass es Nacht geworden war. Vorsichtig schob ich mich von der Bank und machte meine ersten Erfahrungen mit einem Trocken-WC. Ich hätte beinah wieder losgekichert, riss mich gerade noch zusammen, denn ich wollte Lin nicht wecken. Aber ihr leises Schnarchen drang durch den ganzen Raum bis zu mir. Nacht! Jetzt konnte ich es nochmal versuchen. An die Wand gelehnt schloss ich die Augen, konzentrierte mich und beschwor ein Bild seines geliebten, schönen Gesichtes in meinem Kopf herauf.
Viktor! Liebster! Hilf uns!!! Kannst du mich hören? Bitte hilf uns!!!
Ein stechender Schmerz schoss mir in die Schläfen, mit einem Aufschrei sank ich in die Hocke. Es fühlte sich an, als ob mir jemand ein Messer in den Kopf gejagt hätte.
Himmel! Was ist das?
Rote Schleier legten sich vor meine Augen, der Schmerz wurde unerträglich. Ich stöhnte laut auf, vergrub den Kopf in meinen Händen. Arme umfassten mich, Lin sagte etwas, dass ich nicht verstand, zog mich an sich. Das Messer bohrte sich immer tiefer, löschte jeden sinnvollen Gedanken aus. Ich war nur noch ein wimmerndes Bündel, das ums pure Überleben kämpfte. Genauso plötzlich, wie der Schmerz aufgetaucht war, war er auch wieder weg. Von einer Sekunde zur anderen, nichts mehr. Ich keuchte auf vor Erleichterung und nahm die Hände weg.
Lin kauerte vor mir, starrte mich aus schreckgeweiteten Augen an. Sie öffnete den Mund, aber bevor sie etwas sagen konnte, flog die Tür wieder auf. Wir fuhren zusammen, verloren beide das Gleichgewicht und landeten auf dem Hintern. Im schwachen Lichtschein war die große Silhouette eines Mannes zu erkennen. Nur seine Augen glühten in dem sonst konturlosen Gesicht. Er trat einen Schritt herein und schloss die Tür sachte hinter sich.
»Habe ich die Damen erschreckt? Oooh … Excusez moi! Das wollte ich nicht.«
Er lachte leise.
Oh mein Gott! Diese Stimme! Bitte nicht diese Stimme!
»Nun, dann sollten wir uns doch anständig bekannt machen. Was rede ich … Wir kennen uns ja schon, nicht wahr liebe Anna?«
Ich begann am ganzen Körper zu zittern. Lin sah verständnislos abwechselnd von mir zu ihm.
»Aber der anderen jungen Dame bin ich noch nicht begegnet.«
Er kam ein paar Schritte näher und wir wichen weiter in die Ecke zurück.
»Nicht doch! Mesdames! Ich will Ihnen doch nichts Böses.«
Mit seiner weichen, schmeichelnden Stimme sprach ein paar unverständliche Worte und der ganze Raum begann schwach zu leuchten. Mein Blick wanderte langsam von den schweren Stiefeln über die eng sitzenden Lederhosen weiter nach oben. Aus meiner sitzenden Position erschien er mir mehr als riesig, so musste sich David beim Anblick Goliaths gefühlt haben. Dann vergaß ich zu atmen.
Hätte ich es in diesem Moment in Worte fassen müssen, wäre es mir schwergefallen, seine Schönheit zu
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