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v204640

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Titel: v204640 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Calaverno
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ihrem Umarmungsversuch entzog. Europa beschränkte sich klugerweise auf den technisch durchführbaren Teil. Aber der hübsche kleine Jungstier, der so freundlich die Grasbüschel kaute, die sie ihm als vertrauensbildende Maßnahme hingehalten hatte, reagierte total verschreckt auf ihre Reitversuche. Da der ganze Zauber an einem gut besuchten Badestrand unternommen worden war, empörten sich in der Montagsausgabe vor allem die Tierschützer sowie das örtliche Fremdenverkehrsamt. Der süffisanten Berichterstattung konnte man entnehmen, dass die Jungtierherde verstört in einer Ecke der Weide zusammengedrängt stand, als der Besitzer zur Rettung seiner Schützlinge eilte. Wassilij, in einer Hand die Wodkaflasche, warf den Tieren auf Russisch Beleidigungen zu, während Europa hinkend und von Kopf bis Fuß verdreckt dem Zaun zustrebte. Diese Body Painting Performance hatte es bis zur dpa-Meldung gebracht.
    Wie die meisten der »Russenkolonie« hatte Wassilij eine erstklassige handwerkliche Ausbildung mitbekommen. Es mag ihnen ja an Kreativität mangeln, aber ich konnte mit ihnen einfach mehr anfangen als mit den »Strichmännchen«. So nannten Rüdiger und ich die Gruppe, die wir ernsthaft verdächtigten, die Schwierigkeiten der Perspektive und Proportionen nicht meistern zu können und, frei nach dem Fuchs und den Trauben, diese deshalb ablehnten. Ihre Kunst bestand darin, ihre Bilder zu verkaufen und darin waren sie meist geschickter als andere Künstler. Wassilij stellte die Ausnahme dar. Sein Stil: ein wildes Konglomerat. Gegenständlich bis zum Fotorealismus. Es wäre bestimmt interessant, seine neuesten Verrücktheiten zu besichtigen.
    »Nimm für alle Fälle Badezeug mit«, erinnerte Rüdiger mich.
    Die Kinder waren übers Wochenende bei Freunden. So kurz vor den Ferien standen die Noten schon fest und die Lehrer in den Startlöchern. Ich hinterließ ihnen eine kurze Nachricht: »Sind unterwegs, Tiefkühlpizza im Gefrierfach. Bis heute Abend – Mama und Papa.«
    Wassilijs Atelier lag einfach traumhaft am See. Ursprünglich war es eine kleine Reparaturwerkstatt für Fischerboote gewesen. Das riesige Grundstück gehörte einem »reichen Gönner«, erzählte Rüdiger, während wir einen Platz zwischen eindrucksvollen Karossen und elenden Schrottschüsseln suchten. Gut gemischt, reichlich Besucher. Der reiche Gönner schien sich nicht sehr für dieses Anwesen zu interessieren. Die hüfthohen Brennnesseln an der Hauswand sprachen eine deutliche Sprache. Die Fenster wurden überwuchert von Knöterich – den man umgangssprachlich »Architektentrost« nennt – und wahren Prachtexemplaren von Zaunwinden mit handtellergroßen Blättern. Hier und da lugte ein Stückchen geschnitzte Fensterumrahmung hervor. Liebevolle Handarbeit.
    Wie konnte man ein solches Pracht-Grundstück nur so verkommen lassen? Auf dem Weg zum Haus hatte sich eine Spur von Zigarettenstummeln, Kaugummipapieren und Dosendeckeln angesammelt. Wie auf einem Autobahnrastplatz. Der vor Urzeiten sicher einmal gepflegte Rasen, der sich bis zum schmalen Sandstreifen am Wasser hinzog, wuchs nun kniehoch. Noch ein paar Jahre und die Bewohner konnten sich an einer Interpretation von Dornröschen versuchen.
    Rüdiger murmelte nach einem missbilligenden Blick auf den ganzen Müll:
    »Traurig, wie wenig manche schätzen, was sie haben.«
    Kaum hatte er die Tür für mich geöffnet, schlugen uns Stimmengewirr, Akkordeontöne und der Geruch von zu vielen Menschen auf zu engem Raum entgegen. Ich schnaufte wenig begeistert. Vielleicht sollten wir wieder verschwinden. Doch meine Fluchttendenzen wurden von einem dicken, rotgesichtigen Mann vereitelt, der auf uns zustrebte.
    »Meine Lieben, schön, särr schön, euch zu sähen! Kommt mit, ich zeige euch Nina. Nina ist gästern ärrst aus Moskau gekommen. Sie hat ächten Wodka mitgebracht, särr viel Wodka.«
    Mit diesen Worten legte er uns je einen Arm um die Schultern und schob uns durch die Menge auf die Bar zu. Überrascht musterte ich das aufgebaute Büfett. Hier war an nichts gespart worden. Zwei ganze Lachsseiten umrahmten eine Komposition aus Platten voller Schinkenröllchen, Kanapees, Pasteten, Krabbencocktails, Blinis und Piroschkis. Dazwischen: schüsselweise Kaviar – auch der eklige, grobkörnige, orangefarbene.
    »Was darf ich Ihnen auflegen?«
    Die Frage des kleinen, drahtigen Kellners riss mich aus meiner Bewunderung. Ich hatte nicht vor, Wodka zu trinken, aber auch Krimsekt verlangt nach einer Unterlage.

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