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Ich nahm die Blinis mit Lachs und Schmand. In der einen Hand das Sektglas, in der anderen den Teller, versuchten wir, eine ruhige Ecke anzusteuern. Fasziniert wanderten meine Blicke über die Umstehenden. Die Russen unter ihnen outeten sich durch eine spezielle Art von Lebhaftigkeit – laut und unbekümmert. Die Kunstbeflissenen wussten nicht so genau, ob sie dieses Verhalten vulgär oder ursprünglich finden sollten und wirkten etwas steif. Mit einer schneeweißen Seidenbluse von Gucci muss man sich wohl vor Rote-Beete-Flecken hüten! Dazwischen prangten exotische Outfits, die jedem Klischee von überspannten Jungkünstlern entsprachen: Piercings, Tattoos, blau gefärbte Haare, schwarze Lippen – alles, wovon etablierte Vermögensberater so träumen.
Rüdiger hatte einen frei werdenden Platz vor einem Fensterbrett erspäht und strebte zielsicher darauf zu. Ich hielt mich in seinem Kielwasser, bemüht, mein Sektglas gefüllt zu halten. Meine Bemühungen wären fast an einer teuer, aber aufdringlich parfümierten Dame gescheitert, die sich mit einem: »Das ist ja total toll, dass ich dich hier treffe!« auf Rüdiger stürzte. Dessen Rücken im neuen Seersucker-Hemd, einem Kompromiss zwischen bequem und fein, versteifte sich noch um einige Grade mehr als üblich. Seine Erwiderung schien mir recht kühl. Eine Pflichtbekanntschaft? Ich nickte ihr höflich zu und schob mich an den beiden vorbei.
Erleichtert setzte ich den Teller ab und nahm einen Schluck. Bei diesem Gedränge verspürte ich keine Lust, mich durch schwitzende Körper von Bild zu Bild zu kämpfen. Etwas lustlos biss ich in mein Blini. Ein paar Blättchen Dill erregten mein Misstrauen: War das etwa eine Blattlaus? Ich dachte gerade: Dekoration muss man nicht mitessen, als die Duftwolke einen spitzen Schrei ausstieß:
»Huhu, Markus, hierher – hier bin ich!«
Ein wohlbekanntes Gesicht schob sich auf uns zu.
»Seid ihr schon lange da? Hab euch gar nicht gesehen.«
Duftwolke verschlang ihn mit sehnsüchtigen Blicken. Sie hielt ihm eine hagere Wange entgegen, die er flüchtig mit den Lippen streifte. Die andere übersah er geflissentlich. Rüdiger und er tauschten einen komplizenhaften Männerblick aus.
»Sind gerade erst gekommen. Ihr kennt euch ja noch, oder?«
Damit wich er einen Schritt zur Seite, um Markus den Blickkontakt zu mir freizugeben. Die Wolfsaugen hatten ihre offiziellen Rollos heruntergezogen. Erleichtert registrierte ich seine Zurückhaltung in Rüdigers Gegenwart.
»Selbstverständlich. Wie ist es Ihnen in der Zwischenzeit ergangen?«
Eine absolut harmlose Frage, wenn da nicht der leise Hauch von Spott durchgeklungen wäre. Ehe ich antworten konnte, mischte Duftwolke sich ein:
»Aber Markus, seit wann denn so förmlich? Ihr müsst gleich Brüderschaft trinken und ich bin Patin!«
Damit entschwand sie, nach dem Kellner und einer Flasche Krimsekt winkend. Ich hob fragend die Augenbrauen. Von Brüderschaftspaten hatte ich noch nie gehört. Beide Männer grinsten. Rüdiger klärte mich auf:
»Sie ist bekannt dafür, dass sie jede Gelegenheit nutzt. Du hast ihr einen prima Vorwand geliefert, uns beide abzuküssen. Diese Patengeschichte ist ihre Erfindung.«
Die Patin kehrte mit einer vor Kälte beschlagenen Flasche und Gläsern zurück.
»Ich bin die Clara.«
Offenbar kam die Pflicht zuerst. Sie sah mich zum ersten Mal bewusst an.
»Ich heiße Annette.«
Wir stießen an. Küsschen, Küsschen. Dann die Kür. Rüdiger ließ alles pflichtschuldig über sich ergehen. Markus zwinkerte mir zu.
»Annette. Ich bin Markus – auf unsere weitere Bekanntschaft.« Als sein Mund nahe an meinem Ohr war, murmelte er: »Amanda gefällt mir besser.«
Clara nahm mir mühelos die Unterhaltung beider Kavaliere ab. Ich versuchte, mich umzusehen, blieb mir aber Markus’ Nähe bewusst und wurde immer nervöser. Rüdiger warf mir einen besorgten Blick zu.
»Möchtest du ein bisschen an die frische Luft?«
Dankbar lächelte ich ihm zu.
»Ich hole mir noch ein Glas und versuche, ein paar von den Bildern zu sehen. Mach dir um mich keine Gedanken, ich komm schon zurecht.«
Ohne eine Spur schlechten Gewissens schlenderte ich davon. Die Gemälde interessierten mich wirklich. Offenbar hatte die Menge sich um die Tränke geschart, denn in den Außenbereichen dünnte es sich aus und ich entdeckte eine Tür – an einer Wand zwischen einem feinfühligen Akt und einer Herbststudie. Viel Wasser und Himmel. Die Tür war nur leicht angelehnt. In der
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