Valentine
der Bibliothek gelegt hatte, las sie nur Buchstaben, aber keine zusammenhängenden Worte.
»Ich brauche Eure Hilfe.«
Valentine fuhr zusammen. Sie hoffte für den spanischen Seigneur, dass dies nicht wieder einer seiner lästigen Annäherungsversuche war. »Verflucht , Del Castello! Müssen Sie sich immer so anschleichen?«
»Verzeiht, Duchesse.« Emanuele deutete eine entschuldigende Verbeugung an. »Aber es ist wirklich wichtig.«
Verwundert stellte sie fest, dass der Spanier nicht nur ernst, sondern sogar sehr besorgt wirkte und bei weitem nicht so herausgeputzt war wie sonst. Seine Kleidung war staubig, in einem Ärmel war ein Riss zu sehen , und seine Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Sogar sein schmaler Schnurrbart wirkte zerzaust. Da war etwas geschehen.
»Bitte, Duchesse, ich bitte Euch, kommt mit. Schnell.«
Da sie ihn noch nie auf diese Weise erlebt hatte, zweifelte sie keine Sekunde daran, dass es dringlich war. »Was ist denn los?«, fragte sie, während sie Seite an Seite schnell die Bibliothek verließen.
»Ähm, ich habe eine junge Frau aus den Fängen einer Gruppe Unreiner befreit. Sie war wohl ihre Sklavin , und ich denke, es wäre besser, wenn Ihr als Frau …« Emanuele gestikulierte hilflos.
Valentine griff instinktiv nach seinem Arm. »Wie schrecklich. Die Ärmste.« Als er sie verhalten anlächelte, begriff sie, dass sie ihn festhielt , und ließ los. »Wo ist sie jetzt?« Ihre Hand kribbelte wie von Ameisen.
»Ich habe sie erst mal in meinem Zimmer eingeschlossen, damit sie nicht panisch im Schloss herumrennt.«
»Wir sollten Roxanne und Bertrand rufen und sie in den grünen Salon bringen, der ist frei.«
»Aber dann wäre sie die ganze Zeit allein. Was ist, wenn sie bei Tage in Panik gerät? Die beiden haben doch kaum Zeit, sich um das Mädchen zu kümmern.«
Er aber schon? Nun, das konnte man später klären. Zuerst galt es, sich einen Überblick zu verschaffen, in welchem Zustand das Opfer sich befand. Valentine fühlte sich unwohl angesichts der Erinnerung an ihre eigene schicksalhafte Begegnung mit den Unreinen. Verprügeln, foltern, vergewaltigen, morden — die Unreinen waren das Synonym für Gewalt.
Es war schon eine Weile her, dass Valentine die unterirdischen Privaträume von Emanuele betreten hatte, die sich am Ende eines Seitengangs befanden, abseits ihrer eigenen Gemächer. Im Prinzip sah es beim ihm nicht so viel anders aus als bei ihr oder Frédéric, außer dass Emanueles Lieblingsfarbe Rot war. Rot gestrichene Wände, roter Teppich, eine rote Lackkommode. Es würde sie kaum wundern, wenn er rote Kleidung tragen würde. Dennoch wirkten die Räume nicht langweilig, nur ziemlich extravagant. Schwarze Akzente komplettierten das Ganze , und trotz des vielen Rots haftete dem Raum eine gewisse Düsternis an.
Die junge Frau kauerte in einem Sessel, bis zum Hals in eine rote Decke gewickelt, und bot einen erschreckenden Anblick. Ihre Schönheit war nur zu erahnen, so abstoßend wirkte ihre zerrissene Kleidung, die seitlich unter der Decke hervorschaute, ihre verfilzten Haare, ihre schmutzige Haut. Das Schlimmste aber waren ihre Augen, deren Blick sich im Nirgendwo verlor.
Valentine ging langsam vor der Fremden in die Hocke. Bisher war sie davon ausgegangen, dass es sich um eine entführte Vampirin handelte. Del Castello steckte voller Überraschungen. Vor ihr saß niemand anderes als eine Menschenfrau. Hatte nicht gerade er stets andersartige Wesen, insbesondere die menschliche Rasse, als minderwertig bezeichnet und darauf bestanden, die Retter könnten nur Vampire sein? Eigenartig, dass er Mitleid für das Mädchen empfand.
Vielleicht war die Art, in der er sich nach außen präsentierte, nur eine wohl gewählte Fassade. Darüber hatte sie noch nie nachgedacht, weil sie von seiner penetranten Werbung genervt gewesen war. Dann waren die Liebesschwüre, mit denen er sie bedacht hatte, vielleicht doch echt gewesen, nur schlecht verpackt. Diesen Mann zu verstehen war schwierig. Sie würde später darüber nachdenken.
»Wie heißen Sie?«, fragte Valentine die junge Frau betont freundlich.
Die Fremde reagierte nicht, sondern starrte ihr Gegenüber nur an. Ihr Blick war abgestumpft, leblos, in sich gekehrt, als hätte sie sich längst mit ihrem Schicksal abgefunden. Bestimmt hatten die Unreinen sie missbraucht und geschlagen, und niemand wusste, wie lange das schon so ging. Valentine schauderte.
»Wir müssen sie waschen«, stellte sie mehr zu sich selbst als mit
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