Valentine
20
Seit sie in Köln mit Geoffreys Wagen gestartet waren, hatten sie kaum ein Wort gewechselt. Frédéric hatte vorgeschlagen, dass er fahren würde, da er bei Nacht besser sehen könne und die Strecke in- und auswendig kenne. Maurice hatte dagegen nichts einzuwenden. Er fühlte sich ohnedies nicht in der Lage, sich zu konzentrieren. Zu sehr beschäftigten ihn die Ereignisse der letzten Stunden.
Mit seitlichem Blick auf den Tacho stellte er fest, dass der Audi A4 die meiste Zeit über viel zu schnell war, aber es scherte ihn nicht. Frédéric selbst wirkte äußerst konzentriert und wie ein routinierter Autofahrer. Sollten sie geblitzt werden, wäre auf dem Foto ein polizeilich unbekannter Fahrer abgebildet , und der Strafzettel würde einem toten Fahrzeugbesitzer zugestellt. Maurice grinste bei diesem makabren Gedanken.
Mittlerweile hatte Frédéric ihm alles erzählt, was er über den Überfall in der Krypta wusste und wie Aliénor ihren Elfenvater gefunden hatte. Die Geschichte klang wie eine Mischung aus Abenteuerroman und Märchen. Aus dem verkannten Aschenputtel wird eine schöne Elfenprinzessin, die ihren Blut liebenden Prinzen findet. Wenn sich nicht alles so real anfühlen würde, wäre es naheliegend , am eigenen Verstand zu zweifeln. Ein Lichtblick in dem ganzen Durcheinander war auf jeden Fall, seine Mutter in Sicherheit zu wissen. Seine Sorge um Aliénor war dagegen nicht beendet, da Frédéric keine Ahnung hatte, wann und wie sie der Kraft der Spiegel entkommen würde.
Bestimmt wirkte der Vampir nur äußerlich derart ruhig. Vielleicht lernte man diese Selbstbeherrschung, wenn man viele Jahrhunderte alt und von unzähligen Begebenheiten geläutert war. Einzig das gelegentliche Trommeln seiner Finger auf dem Lenkrad und der angespannte Gesichtsausdruck gaben einen Aufschluss darauf, was ihn beschäftigte.
Was für eine verrückte Verkettung der Zufälle, dass ausgerechnet dies der Mann war, dem Aliénors Herz gehörte. Sein eigenes lag schwer wie ein Stein in seiner Brust. Noch hatte er keinen Plan, wie er sich am geschicktesten bei Valentine entschuldigte. Im Gegensatz zu ihr schien Frédéric kein Problem damit zu haben, dass er der Sohn eines Vampirjägers war. Vielleicht lag das daran, dass er durch Aliénor schon mit dieser absurden Situation konfrontiert worden war oder dass die Umstände ihres Kennenlernens nicht von Heimlichkeiten geprägt waren.
So sehr Maurice auch hin und her überlegte, er fand, es hatte keinen günstigen Moment gegeben, in dem er Valentine die Wahrheit hätte sagen können. Ihm blieb nur die Hoffnung, dass ihre Liebe stark genug war, ihm zu verzeihen. Diese Ungewissheit drückte ihm auf den Magen und verursachte Übelkeit.
Nachdem sie die Autobahn verlassen hatten, folgten sie dem kurvigen Verlauf einer Landstraße, passierten unbeleuchtete Dörfer und weite Felder und bogen schließlich in einen Wald ab. Mitten durch den dichten Baumbestand zog sich nach ein bis zwei Kilometern ein hoher Zaun. Frédéric öffnete auf magische Weise das breite Tor, das die Straße versperrte , und wenig später ging der Wald in eine parkähnliche, lichtere Landschaft mit gemischtem Baumbestand über, soweit Maurice dies in der Dunkelheit zu beurteilen vermochte.
»Wow!« Beeindruckt schaute er auf die breite Treppe, vor der sie anhielten, und warf einen ersten Blick die Schlossfassade empor, die sich vor ihm in den Nachthimmel erhob. Valentine hatte zwar ein Schloss im Familienbesitz erwähnt, ein solches, beeindruckend großes Château hatte er nicht erwartet. Nach Frédérics Erzählung hätte er mit etwas Überlegung von selbst drauf kommen können, denn wo sonst sollte es einen richtigen Spiegelsaal geben.
Noch ehe sie das Portal erreichten, wurde die Tür geöffnet , und ein Mann in einem gepflegten, aber etwas altmodischen Anzug trat heraus. Als er den Duc erkannte, wirkte er sichtlich erleichtert und verbeugte sich.
»Bon soir, Monsieur Le Duc, gut , dass Sie heimkommen.« Sein Französisch klang gepflegt und ein wenig antiquiert. »Bon soir«, richtete der Diener seine Begrüßung auch an Maurice , die dieser erwiderte.
Eine Szenerie wie aus einem Spielfilm.
»Ist etwas geschehen, Bertrand?«, fragte Frédéric stirnrunzelnd, während er an seinem Butler vorbeiging.
Maurice folgte ihm. Der Diener trat hinter ihm ins Schloss und beeilte sich, Frédéric zu folgen, nachdem er die Haustür sorgfältig geschlossen hatte.
A ngesichts der riesigen Eingangshalle kam
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